Neuestes Buch:
Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
konkret, September 2001
Zufällig erfuhr ich es beim Abendessen in Paris. Pierre Lévy, der Herausgeber der EU- und deutschlandkritischen Monatszeitschrift „Bastille-République-Nation“, der unerwartet zu uns stieß, hatte kurz zuvor als Journalist am Parteitag der Sozialdemokratischen Parteien Europas (SPE) teilgenommen. Von der SPD ausgerichtet war dieser Parteitag am 7. und 8. Mai 2001 in Berlin mit 1.500 Delegierten, Gästen und Journalisten, darunter zehn sozialdemokratische Regierungschefs sowie den 20 Vorsitzenden der Mitgliedsparteien über die Bühne gegangen.
Ebenso amüsiert wie empört zitierte Lévy den Satz, mit dem Gerhard Schröder die Versammelten begrüßte: „Willkommen in der Stadt der deutschen und europäischen Einheit!“ Was französische Ohren noch irritiert – jener hochmütige Gestus, mit welchem der Bundeskanzler Berlin und damit sich selbst zum Zentrum und großen Einiger Europas stilisiert – fällt hierzulande nicht mehr auf. Es war ein anderes Detail aus Lévys Bericht, das mich aufhorchen ließ: In einem Rückblick auf historische Ereignisse des 7. und des 8. Mai sei in der offiziellen Konferenzbroschüre der SPD unter „8. Mai“, alles Mögliche, nicht aber der 8. Mai 1945 aufgelistet gewesen.
Im Internet bestätigte sich diese Information. Unter der Überschrift „Wichtige Daten“ wurden (und werden) unter dem 7. Mai eine Ausstellung in Hannover von 1957, die Wahl Chiracs von 1995 sowie die Fusion zwischen Daimler-Benz und Chrysler von 1998 aufgeführt. Zum 8. Mai heißt es ungekürzt in dem SPD-Papier (vgl.: www.spe-kongress.de/i/spe_zahlendatenfakten.pdf, S.24):
8. Mai:
C´est tout! Während in Rußland, Frankreich und anderswo die vollständige Kapitulation des Nationalsozialismus auch heute noch als ein Feiertag begangen wird, wurde eben dies von den verantwortlichen SPD-Funktionären ignoriert. Nichts aber ist in Punkto „Auschwitz und Nationalsozialismus“ markanter als die Auslassung: vermutlich hatte der 8. Mai 1945 den Verantwortlichen besonders laut im (Unter-)Bewußtsein gehämmert – warum sonst wurden alle Mühen der Archivarbeit aufgewendet, um dieses Datum mit der Ananderreihung von Trivialitäten zu besetzen? Warum sonst wurde keine Verdrängungsenergie gescheut, um einem „deutschen“ Datum eben jenen Charakter zu nehmen und die antiamerikanisch gefärbte Thematisierung von Coca-Cola mit Verweisen auf das ehemalige Apartheid-Südafrika und den Sporterfolg eines Italieners aus dem Südtirol ergänzt?
Diese Form der Selbstentblößung ist beinahe schon zu alltäglich, um noch der Rede wert zu sein. Was sie in diesem Fall zu einem Vorgang von Bedeutung werden läßt, ist erstens ihr offizieller Charakter: Hier hat unbewußt oder bewußt die Regierungspartei der größten EU-Macht („Herausgeber: Franz Müntefering“) ihren europäischen „Schwesterparteien“ eine Geschichtslektion erteilt. Die Präsentation des 8. Mai ist symptomatisch für den Wunsch und das Bemühen der SPD, die Ideologie des „Walserismus“, die mit „rot-grün“ zur Regierungsdoktrin avancierte (vgl. konkret 2/1999), auch europaweit zum Maßstab zu erheben.
Auffällig ist zweitens die Selbstverständlichkeit, mit der diese Darstellung sowohl parteiintern wie auch von der durch Hunderte von Journalisten repräsentierten Öffentlichkeit abgenickt worden ist. „Sie sind der erste, dem das aufgefallen ist“, bestätigte mir eine Frau Hirschfeld im Namen der Pressestelle der SPD-Parteizentrale in Berlin. Natürlich hätten die presserechtlich verantwortlichen Redakteure Michael Donnermeyer und Lars Kühn „alles nochmal angeguckt“, fuhr Frau Hirschfeld fort. „Aber auch ihnen ist es nicht aufgefallen.“ Ganz sicher nicht?
Während Frau Hirschfeld den Vorfall schon der Etikette wegen als „peinlich und ärgerlich“ kommentierte, bereitete er der unmittelbar verantwortliche SPD-Redakteurin Petra Tursky-Hartmann nicht das geringste Problem. Unbefangen und forsch, wie die neudeutsche Walser-Generation nun einmal ist, konterte sie meine Frage nach dem Grund für die Auslassung des 8. Mai 1945 mit einer geradezu paradigmatischen Erwiderung: „Der ist uns entglitten.“
Das grammatikalische Subjekt ist in diesem Satz nicht die Dame selbst, sondern der 8. Mai 1945, der sich als historisches Subjekt scheinbar selbstständig gemacht hat und durch die Finger der SPD-Redakteurin und ihrer Vorgesetzten nicht nur geglitten, sondern wie ein zappeliger Fisch gar „entglitten“ ist. Natürlich unabsichtlich, denn „wegen dem Datum“, beteuert Frau Tursky-Hartmann, „da schämt sich hier niemand. ... Ich will es nicht rausschmeißen, bewußt oder so. Wenn, dann ist das irgendwo verschütt gegangen.“ Wohin ist „es“ verschütt gegangen? Wo ist „es“ gelandet?
Nicht überall ging am 8. Mai 2001 die Erinnerung an 1945 verschütt. Am jenem Tag, an dem Pierre Lévy, seinen Augen nicht trauend, das SPD-Papier studierte, fand in Berlin ein vom Spiegel organisiertes Forum mit den Teilnehmern Arnulf Baring, Brigitte Hamann, Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble statt. Sein Titel: „Die Gegenwart der Vergangenheit“. Und wie die Vergangenheit hier gegenwärtig war!
Joschka Fischer warb für den Gedanken, in den Deutschen die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus zu sehen: „Wir sollten darüber zu diskutieren beginnen, was die Nazis uns angetan haben. Was sie an deutscher Tradition und Kultur und damit auch an Zukunft zerstört haben.“ Wolfgang Schäuble griff diesen Gedanken auf und schwärmte im Stil des frühen Ernst Jünger vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: „Das Modell des Reiches aus dem Mittelalter ist womöglich ein interessanteres Modell für die Organisation Europas im 21. Jahrhundert“. Arnulf Baring schließlich rief dazu auf, sich auch am Nationalsozialismus ein Beispiel zu nehmen, um deutsche „Identitätsschwächen“ zu überwinden: „Nur ein Stück von jenem Enthusiamus, den der Hitler vor und vor allem nach 1933 erweckte, würde reichen, alle unsere Probleme sofort zu lösen.“ Enthusiasmus wofür? Hatte Baring hier die Hochstimmung aus Anlaß der antijüdischen Progrome gemeint? Oder die Begeisterung, die die Besetzung Frankreichs auslöste? Kein Teilnehmer dieses Forums wollte sich von Barings Ratschlag distanzieren. Der Anbruch des neuen Jahrhunderts, fuhr Baring fort, „legt Distanz zum 20. Jahrhundert. Die neue Generation kann die Ereignisse jetzt neu mischen.“ (Spiegel 20/2001)
Die Ereignisse werden neu gemischt: Zwischen der Erfindung von Coca-Cola und der Erklimmung des Mount Everest ging die Karte mit der Aufschrift „1945“ verschütt. Vielleicht bedarf es im Deutschland des Jahres 2001 ja tatsächlich keines Vorsatzes mehr, um die weniger „verteidigungswürdigen“ Aspekte des Nationalsozialismus, z.B. dessen Niederlage, aus dem Gedächtnis „entgleiten“ und „verschütt“ gehen zu lassen.
Und niemand stört sich am neuen Spiel. Niemand? „Es ist diese Art von Vergeßlichkeit, die es einem kalt über den Rücken laufen läßt“ – so Pierre Lévys Kommentar am 16. Juni 2001 im Figaro.
(veröffentlicht unter dem Titel „Braune Limonade“ in: konkret 9/2001, S. 34)