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Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Der Bassidschi-Einsatz auf den Minenfeldern zeigt, was vom Mullah-Regime zu erwarten ist
Spiegel-Online, Juni und Juli 2006
In seinem Brief an George W. Bush präsentiert sich Mahmoud Ahmadinejad als ein Anwalt der Entrechteten und als Sprecher der Dritten Welt: Er geißelt die Kriegsführung der Amerikaner im Irak, beschwört die Werte in der Tradition von Jesus Christus und fragt: „Wie lange noch wird das Blut unschuldiger Kinder vergossen?“
Der Einsatz iranischer Kinder im Krieg gegen den Irak (1980-88) erwähnte er nicht. Damals regelte ein iranisches Gesetz, dass Kinder ab zwölf auch gegen den Willen ihrer Eltern auf die Minenfelder durften. Vor jedem Einsatz wurde ihnen ein kleiner Plastikschlüssel um den Hals gehängt, der ihnen, so die Zusicherung, die Pforte zum Paradies öffnen werde. 500.000 dieser Schlüssel hatte das Regime aus Taiwan importiert.
„Früher sah man freiwillige Kinder, vierzehn-, fünfzehn-, sechzehnjährige“, schrieb die halbamtliche iranische Tageszeitung ,Ettela’at’. „Sie gingen über Minenfelder. Ihre Augen sahen nichts, ihre Ohren hörten nichts. Und wenige Augenblicke später sah man Staubwolken aufsteigen. Als sich der Staub wieder gelegt hatte, war nichts mehr von ihnen zu sehen. Irgendwo, weit entfernt in der Landschaft, lagen Fetzen von verbranntem Fleisch und Knochenteile herum.“ Derartige Szenen würden nunmehr vermieden, versicherte ,Ettela’at’: „Vor dem Betreten der Minenfelder hüllen sich die Kinder [jetzt] in Decken ein und rollen auf dem Boden, damit ihre Körperteile nach der Detonation der Minen nicht auseinanderfallen und man sie zu den Gräbern tragen kann.“[1]
Die Kinder, die sich so in den Tod rollten, gehörten der 1979 von Khomeini ins Leben gerufenen Massenbewegung der Bassidschi an. Die Bassidschi-e Mostasafan („die Mobilisierten der Unterdrückten“) waren kurzfristig rekrutierte Milizionäre. Die meisten von ihnen waren noch keine 18 Jahre alt. Sie zogen zu Tausenden und mit Begeisterung in ihr Verderben. „Die jungen Männer räumten mit ihren eigenen Körpern die Minen“, erzählte im Frühjahr 2002 ein Kriegsveteran, „es war zum Teil wie ein Wettrennen, ohne Befehl der Kommandeure, jeder wollte der erste sein.“[2]
Die westlichen Medien legten für die Bassidschi wenig Interesse an den Tag: Sei es, weil Journalisten beim Kriegsgeschehen nicht dabei sein durften, sei es, weil man den Berichten nicht glaubte. Dabei ist es bis heute geblieben. Der Giftgas-Angriff Saddam Husseins auf die Kurden von Halabja (5.000 Tote) hat sich in unserem Gedächtnis erhalten. Über die Kinder der Minenfelder ging die Geschichte hinweg.
Heute aber tritt Ahmadinejad öffentlich in Bassidschi-Uniform auf. Mit ihm eroberte die Generation der Teilnehmer jenes Krieges die Macht im Land. Es war die Bassidschi der Gegenwart, die Ahmadinejads Wahlkampagne geprägt und ihn im Sommer 2005 auf ihren Schultern ins Präsidentenamt getragen hatten. Der Sieger zeigte sich erkenntlich: Im Herbst 2005 rief der neue Präsident zur „Bassidschi-Woche“ auf. Nach einem Bericht der Zeitung Kayan kamen neun Millionen Bassidschi, die „eine Menschenkette über eine Entfernung von 8.700 Kilometern bildeten. ... Allein in Teheran waren 1.250.000 Menschen auf der Straße.“[3]
Ahmadinejad rühmte in seiner Ansprache die „Bassidschi-Kultur“ und die „Bassidschi-Macht“, mit der der Iran heute „auf der internationalen und weltdiplomatischen Ebene präsent“ sei. Der Vorsitzende des Wächterrates, Ayatollah Ahmad Jannati, stellte selbst die Fortschritte des iranischen Atomprogramms als den Erfolg jener Menschen dar, „die der Bassidschi-Bewegung dienen und eine Bassidschi-Psyche und Bassidschi-Kultur besitzen.“[4]
Seit Ahmadinejads Amtsantritt wird die Opferung der Bassidschi-Kinder im Krieg gegen den Irak mehr denn je gefeiert. Bereits in einer seiner ersten Fernsehansprachen schwärmte der Präsident:„Gibt es Kunst, die schöner, göttlicher und ewiger wäre, als die Kunst des Märtyrertods?“[5] Revolutionsführer Ali Khamenei pries den Krieg gegen den Irak angesichts der Furchlosigkeit der Bassidschi gar als den Prototyp künftiger Auseinandersetzungen an. Schon deshalb sollten wir uns für deren Geschichte interessieren. Doch es gibt noch einen zweiten Grund: Der Kriegseinsatz der Bassidschi ist das Ursprungsverbrechen des politischen Islam: Hier hat der Kult des religiös motivierten Selbstmordattentats seinen Anfangspunkt. Wenn wir verstehen wollen, warum heute im palästinensischen Parlament eine Frau sitzt, die dafür verehrt wird, drei ihrer fünf Söhne in den Tod gejagt zu haben, wenn wir wissen wollen, warum sich auch heute noch über 50.000 junge Iraner für Selbstmordattentate bewerben, dann kommt man an den Bassidschi nicht vorbei. Die erste Station unserer Reise in eine fremde Welt führt uns auf die Schlachtfelder des iranisch-irakischen Kriegs.
Die Bassidschi-Kinder im Krieg
1980 bezeichnete Khomeini den irakischen Angriff auf den Iran als ein Geschenk des Himmels. Dieser Krieg bot ihm den willkommenen Vorwand, die Gesellschaft und den Staatsapparat des Iran zu islamisieren.
Seit der Revolution von Februar 1979 hatte Khomeini die irakischen Schiiten unentwegt aufgerufen, „sich gegen den verbrecherischen Mörder Saddam und seine Sippe zu erheben“. Irakische Untergrundorganisationen erhielten Geld aus Teheran und iranische Radiosender wurden zu Propagandazwecken nahe der iranischen Grenze stationiert. Im September 1980 antwortete der Irak mit einem Einmarsch in den Iran. Khomeini konnte in dieser Situation auf die regulären, vom Schah aufgebauten Streitkräfte nicht verzichten. Doch suchte er ihren Einfluss zu vermindern: Binnen kürzester Frist wurden die Khomeini fanatisch ergebenen Revolutionsgarden (Pasdaran) zu einer eigenständigen Armee inklusive Marine und Luftwaffe ausgebaut. Gleichzeitig wurde der Aufbau der Volksmiliz der Bassidschi forciert.
Während die Pasdaran aus professionellen Soldaten bestanden, wurden die Bassidschi unter den männliche Jugendliche zwischen 12 und 17 sowie Männern über 45 Jahren rekrutiert. Ihre Ausbildung dauerte kaum länger als zwei Wochen, wobei man den Mangel an Waffen durch einen Überschuss an religiöser Propaganda zu kompensieren pflegt. Zum Abschluss erhielt jeder Bassidschi ein blutrotes Stirnband, das ihn als einen „Freiwilligen Märtyrer“ auszeichnete.
Auf dem Schlachtfeld stellten die Bassidschi mit einem Anteil von 30 Prozent der Gesamtstreitkräfte das Gros der Infanterie, die Pasdaran 40 Prozent und die regulären Streitkräfte weitere 30 Prozent.[6] Die Mitglieder der Pasdaran verfügten über höhere Bildungsabschlüsse als die Bassidschi, die hauptsächlich von den Dörfern kamen und häufig Analphabeten waren. Sie stellten die Nachschubkräfte, die erst dann nachzurücken pflegten, wenn die Angriffswellen der Bassidschi schon zerschmettert waren.[7]
Und so sah die Taktik dieser Menschenwellen aus: Die Kinder und Jugendliche mussten sich, kaum bewaffnet, in waagerechten Reihen vorwärts bewegen. Ob man als Kanonenfutter dem feindlichen Feuer entgegenlief oder Minen zur Explosion brachte – wichtig war, dass die Bassidschi über die zerfetzten oder verstümmelten Menschenreste diszipliniert hinwegstiegen und sich in immer neuen Wellen in den Tod warfen.[8] Auf diese Weise erzielte der Iran 1982 durchaus Anfangserfolge. „Sie kommen in riesigen Horden … und stürmen fäusteschwingend auf unsere Stellungen zu“, klagte im Sommer 1982 ein irakischer Offizier. „Man kann die erste Welle erschießen, auch die zweite, aber irgendwann türmen sich vor dir die Leichen, dass du nur noch heulen und dein Gewehr wegwerfen willst, das sind doch alles Menschen.“[9]
Im Sommer 1982 spitzten sich die Gegensätze zwischen der „revolutionären“ und der „konventionellen“ iranischen Kriegsführung zu. Jetzt war der irakische Angriff zurückgeschlagen und der Vorkriegszustand wieder hergestellt. Saddam Hussein hatte den Waffenstillstand angeordnet und Verhandlungen angeboten. Die reguläre iranische Armee wollte nun ebenfalls den Krieg beenden, Saddams Verhandlungsangebot akzeptieren und jeden weiteren Bassidschi-Einsatz vermeiden. Khomeini und die Pasdaran widersprachen ihr in allen drei Punkten. Sie trafen damit „eine der wichtigsten Entscheidungen in der jüngeren Geschichte des Nahen Ostens – eine Entscheidung, die den Krieg um volle sechs Jahre verlängerte.“[10] Ahmadinejads Beteuerung, wonach der Iran „niemals irgendein Land angegriffen“ habe, trifft nicht zu. Zwischen 1982 und 1988 setzte der Iran den Krieg als einen Eroberungskrieg fort.
Wie wurden die Bassidschi rekrutiert? Da waren zunächst die Schulen. Die Pasdaran entsandten „außerordentliche“ Pädagogen, die sich bei den dortigen paramilitärischen Pflichtveranstaltungen ihre Märtyrer herauspickten. Propagandafilme wie das 1986 im iranischen Fernsehen gesendete Machwerk „Eine Spende für den Krieg“ priesen das Bündnis zwischen Regime und Kind und geißelten Eltern, die das Leben ihrer Kinder zu retten suchten.[11]
Zweitens setzte das Regime materielle Anreize ein. So gewährte man im Rahmen der Kampagne „Opfere eines deiner Kinder dem Imam“ jeder Familie, die ein Kind auf dem Schlachtfeld verlor, hohe zinsfreie Kredite sowie weitere großzügige Vergünstigungen.[12] Zudem bot die Mitwirkung bei den Bassidschi den Ärmsten der Armen die Chance auf eine Karriere – bis heute werden Bassidschi-Reservisten vom Mullah-Staat protegiert.
Drittens setzte das Regime auch Zwangsmaßnahmen ein. Die nachfolgende Geschichte vom kleinen Hossein, die der SPIEGEL 1982 dokumentierte, steht für Tausende:
„,Warum bist du in den Krieg gezogen?’ Der Junge im Tarnanzug mit doppelt umgekrempelten Ärmeln und Hosenbeinen gibt keine Antwort. ,Er heißt Hossein, seinen Familiennamen kennt er nicht’, sagt der Dolmetscher. Der Junge ist höchstens zwölf. Sein Gesicht ist eingefallen, der Körper vornübergebeugt, sein Atem kommt stoßweise. Man sieht, dass er Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. ,Kinderlähmung’ , sagt der Dolmetscher. ... Hossein kommt aus Mostalbar, einem winzigen Fleck irgendwo zwischen Schiras und Bandar-i-abas. ... Eines Tages kamen fremde Mullahs ins Dorf. Sie ließen die ganze Bevölkerung auf dem Platz vor dem Polizeigebäude antreten und berichteten, sie brächten eine gute Botschaft vom Imam Khomeini: Die islamische Armee des Iran sei dazu ausersehen, die heilige Stadt el-Kuds – Jerusalem – von den Ungläubigen zu befreien. ... Hossein hatte keine andere Wahl. Der Ortsmullah hatte bestimmt, dass jede Familie mit Kindern einen Gottessoldaten zu stellen habe. Und weil Hossein für die Familie am leichtesten zu entbehren war, weil er ferner wegen seiner Krankheit hienieden ohnehin nicht viel Glück zu erwarten hatte, wurde er vom Vater dazu bestimmt, die Familie im Kampf gegen die ungläubigen Teufel zu vertreten.“[13]
Von den 20 Kindern, die mit Hossein in die Schlacht zogen, überlebten nur er und weitere zwei. 1982 wurden bei der Rückeroberung der Stadt Chorramschahr 10.000 Iraner getötet. Im Februar 1984 blieben nach der „Operation Kheiber“ 20.000 iranische Leichen auf dem Schlachtfeld zurück. 1986 kostete die „Kerbala 4-Offensive“ über 10.000 Iranern das Leben.[14] Insgesamt sollen bei Bassidschi-Einsätzen einige hunderttausend Menschen getötet worden sein.[15] Dennoch wollten die revolutionären Gotteskämpfer selbst noch 1988, als auch Khomeini die Friedensverhandlungen endlich akzeptierte, blindlings weiterkämpfen. Einen Eindruck jener Stimmung vermittelt Christopher de Bellaigue in seinem Iran-Report Im Rosengarten der Märtyrer : „Sadegh Zarif war an der Front, als Saddam den Waffenstillstand schließlich annahm. ,Von der irakischen Seite hörte man Freudenschreie und Schüsse in die Luft. Sie tanzten. Auf unserer Seite weinten alle.“[16] Warum diese Tränen? Und warum die Begeisterung, mit der die Bassidschi in ihr Verderben gelaufen sind?
Die Märtyrer von Kerbala
Zu Beginn des Krieges hatten die Mullahs keine Menschen, sondern Tiere in die Minenfelder geschickt: Esel, Pferde, vor allem Hunde. Vergeblich. „Die Esel galoppierten in Schrecken davon, nachdem einige ihrer Artgenossen in die Luft gesprengt worden waren“, berichtet Mostafa Arki in seinem Buch Acht Jahre Krieg im Nahen Osten. Diese Esel reagierten normal. Die Angst vor dem Tod ist ein Teil der Natur. Die Bassidschi hingegen marschierten klaglos, furchtlos, wie von unsichtbarer Hand gesteuert in ihren Tod.
Befremdlich klangen schon die Parolen, mit denen sie in die Schlacht zogen: „Gegen den Yazid unserer Zeit!“ „Die Karawane Hussein zieht weiter!“ „Ein neues Kerbala wartet auf uns“.
Yazid, Hussein und Kerbala sind Schlüsselbegriffe der schiitischen Religion. Ihr Ursprungsmythos ist die im Jahr 680 in Kerbala ausgefochtene Schlacht zwischen den Gründern des sunnitischen und des schiitischen Islam. Die Hauptfigur der Schiiten ist Imam Hussein, der Enkel des Propheten Muhammad. Hussein hatte einen Aufstand gegen den „unrechtmäßigen“ Kalifen Yazid riskiert. Husseins Aufstand wurde jedoch von denjenigen verraten, die ihm zuvor die Treue geschworen hatten. Diese „Erbsünde“ der Schiiten generiert bis heute bedingungslose Loyalität. Auf der Ebene von Kerbala, am zehnten Tag des Monats Muharrem wurden Hussein und sein Gefolge von einer unbesiegbaren Übermacht unter Yazids Führung angegriffen und niedergemacht. Husseins Leichnam wies die Spuren von 33 Lanzenstichen und 34 Schwerthieben auf. Sein Kopf wurde abgeschlagen und der Rumpf von Pferden in den Boden gestampft. Seither ist das Märtyrium Husseins der Kern der schiitischen Theologie und der Ashura-Tag das höchste Fest der Schiiten. Männer schlagen sich mit Fäusten auf die Brust oder geißeln ihren Rücken mit Eisenketten, um sich in das Leiden Husseins hinein zu versetzen. Diese Rituale sind vor-islamischer Natur: Die Schia hatte sie von zoroastrischen und heidnischen Traditionen adaptiert.[17]
Der Nobelpreisträgers für Literatur, Elias Canetti, beschreibt in Masse und Macht das Ashura-Fest in Teheran, wie es etwa 1850 stattgefunden hat. Diese Bericht nimmt einiges von dem, was uns am Kriegsverhalten der Bassidschi so unverständlich erscheint, vorweg: „500.000 Menschen, vom Wahne gepackt, bedecken sich das Haupt mit Asche und schlagen mit der Stirn gegen den Boden. Sie wollen sich der freiwilligen Marter unterwerfen, sich in Gruppen umbringen und raffiniert verstümmeln. ... Zu Hunderten kommen Männer in weißen Hemden herbei, das Gesicht ekstatisch zum Himmel gewandt. Von diesen Männern werden mehrere am Abend tot sein, viele verstümmelt und entstellt und die weißen Hemden, rot verfärbt, werden Leichentücher sein. ... Es gibt kein schöneres Los, als an dem Festtag der Ashura zu sterben, die Pforten der acht Paradiese stehen für die Heiligen weit offen, und jeder sucht hineinzugelangen.“[18]
Wenn auch Exzesse dieser Art im gegenwärtigen Iran verboten sind, hat doch Khomeini den spirituellen Kern des auch heute noch gepflegten Rituals übernommen und ihn politisiert.
Er hat die nach innen gerichtete Leidenschaft auf den äußeren Feind gelenkt. Er hat die passive Klage in aktiven Protest überführt. Er machte die Schlacht von Kerbala zum Prototyp des Aufbegehrens gegen Tyrannei. Schon bei den Anti-Schahprotesten von 1978 trugen viele Teilnehmer Leichengewänder, um den Ashura-Kult mit den aktuellen politischen Kämpfen zu verbinden. Noch stärker wurde dann im Krieg gegen den Irak an Kerbala angeknüpft: Hier der Bösewicht Yazid in Gestalt des Saddam Hussein, dort der Propheten-Enkel Hussein, für dessen Leid die Zeit der schiitischen Rache jetzt gekommen war.
Doch warum sollten die Bassidschi in diesem Kampf ihr Leben lassen? Hier kommt Khomeinis Theologie ins Spiel. Ihm gilt das Leben als wertlos und der Tod als der Beginn eigentlicher Existenz. „Die natürliche Welt“, erklärte er im Oktober 1980, „ist der niedrigste Aspekt, der Abschaum der Schöpfung.“ Entscheidend sei das Jenseits, jene „göttliche Welt, die unerschöpflich“ ist.[19]
Oder in den Worten des Khomeini-Nachfolgers Ahmadinejad: „Ein böses Ende haben nur die, die das Leben des Diesseits bevorzugt haben. ... Ewige Glückseligkeit des Paradieses gehört denen, die … nicht ihren Gelüsten folgen.“ [20] Ganz oben stehen hierbei die Märtyrer.
Ihr Tod gilt lediglich als ein Übergang von der diesseitigen in die jenseitigen Welt, wo sie in Ewigkeit und Prächtigkeit weiterlebten. Ob der Kämpfer also die Schlacht gewinnt oder ob er sie verliert und als Märtyrer stirbt – in beiden Fällen sei der Sieg gewiss: Entweder als weltlicher oder als seelischer Sieg. Auf Letzteren aber komme es in erster Linie an: „Eine ideologisch reine Armee ist besser als eine siegreiche Armee.“[21]
Diese Einstellung hatte für die Bassidschi eine verhängnisvolle Konsequenz: Man kümmerte sich nicht darum, ob sie überleben oder nicht. Nicht einmal auf die Effizienz ihres Opfers kam es an. Militärische Siege seien sekundär, erklärte Khomeini im September 1980. „Wir müssen unsere Ziele mit heiligen Maßstäben messen und Sieg und Niederlage auf dem heiligen Schlachtfeld definieren. ... Selbst wenn die ganze Welt gegen uns aufsteht und uns vernichtet, haben wir doch gesiegt.“[22]
Hätte Khomeinis Hass auf das Leben auch ohne den tiefverwurzelten Kerbala-Mythos im Krieg gegen den Irak seine Wirkung entfalten können? Vermutlich nicht. Mit ihren Kerbala-Parolen auf den Lippen zogen die Bassidschi erregt in die Schlacht. Und alle zogen mit. Ali Khamenei, der heutige Revolutionsführer, lobte iranische Mütter, die für die Verluste ihrer Söhne Gratulationen statt Beileidsbekundungen entgegennahmen. Rafsanjani, die heutige Nr. 2 im Iran, erzählte seiner Zuhörerschaft die Geschichte von den Kindern der in Kerbala getöteten Soldaten: „Die Kinder zogen sich ihr Leichentuch über, nahmen ihres Vaters Schwert und waren zum Selbstopfer bereit.“ Anschließend machte sich Rafsanjani über die Kommandeure der regulären iranischen Armee lustig, da diese den Familien die Entsendung ihrer Kinder zur Front verbieten wollten. Die Kinder, so Rafsanjani triumphierend, hielten sich nicht daran.[23]
Der Mythos vom Imam
Wenn dennoch der Todesmut der Bassidschi nachzulassen drohte, inszenierte das Regime eine Show. Dann tauchte an der Front ein geheimnisvoller Reiter auf einem prächtigen Schimmel auf. Sein mit Phosphor überzogenes Gesicht leuchtete. Seine Kleidung war die eines mittelalterlichen Fürsten. Die Soldaten reagierten mit panikartiger Verzückung, berichtet der Kindersoldat Reza Behrouzi, dessen Geschichte Freidoune Sehabjam 1985 dokumentierte. „Alle wollten dem Reiter entgegenlaufen. Dieser aber schickte sie fort. ,Kommt nicht zu mir’, rief er, ,stürmt zum Angriff gegen die Ungläubigen. ... Rächt den Tod unseres Imam Hussein und macht die Abkömmlinge Yazids nieder’. Als die Gestalt verschwindet, rufen die Soldaten: ,Ya, Imam Zaman, wo bist du?’. Sie werfen sich auf die Knie, beten und weinen. Als er wiedererscheint, stehen sie wie ein Mann auf. Wer noch bei Kräften ist, läuft dem Feind entgegen.“[24]
Die geheimnisvolle Gestalt, die solche Emotionen freisetzen konnte, ist der „Verborgene Imam“ – eine mythische Figur, die das Denken und Handeln Ahmadinejads bis heute bestimmt. Die Schiiten bezeichnen alle Nachkommen des Propheten Muhammad als Imame und schreiben ihnen einen quasi-göttlichen Status zu. Der in Kerbala von Yazid ermordete Hussein war der dritte Imam, dessen Sohn und Enkel der vierte und fünfte. Am Ende dieser Linie steht der „Zwölfte Imam“ mit Namen Muhammad. Einige bezeichnen ihn als den Mahdi („der Rechtsgeleitete“), andere als Imam Zaman (von saheb-e zaman: „der Herr der Zeit“). Er wurde 869 als einziger Sohn geboren und verschwand 874 spurlos. Biologisch brach die Linie Mohammeds damit ab. Die Schiiten aber setzten sie mythologisch fort. Sie sind davon überzeugt, dass sich der Zwölfte Imam im Alter von fünf Jahren lediglich zurückgezogen habe, um in naher oder ferner Zukunft aus seiner Verborgenheit aufzutauchen und die Welt von allen Übeln zu befreien. Wie stark die Hoffnung auf die Ankunft des schiitischen Messias in der iranischen Bevölkerung verwurzelt ist, beschrieb der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul. Überall hingen Plakate, scheibt Naipaul aus dem nachrevolutionären Teheran, deren Motive an den Maoismus erinnerten: Eine Menschenmenge zum Beispiel, die wie zum Gruß Gewehre und Maschinengewehre in die Luft hält. Die Textzeile aber war immer gleich. „Zwölfter Imam, wir warten auf dich.“ Die Verehrung für Khomeini habe er intellektuell noch nachvollziehen können, schreibt Naipaul. „Der Gedanke hingegen, die Revolution solle darüber hinaus eine Opfergabe an den Zwölften Imam sein, der 874 n. Chr. von der Bildfläche verschwand und sich seither ,im Verborgenen’ hielt, war schwerer zu begreifen.“[25]
Nach schiitischer Tradition darf eine legitime islamische Herrschaft erst beim Wiederauftauchen des Zwölften Imam errichtet werden. Bis dahin bleibt den Schiiten nichts anderes übrig, als zu warten, sich mit der illegitimen Herrschaft abzufinden und dem Schicksal des Prophetenenkels Hussein in Trauer zu gedenken. Khomeini aber dachte gar nicht daran, zu warten. Er gab dem Mythos einen gänzlich neuen Sinn. Der Zwölfte Imam werde erst dann aus der Verborgenheit zurückkehren, wenn die Gläubigen damit begonnen hätten, das Böse zu beseitigen und dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Um die Wiederkehr des Mahdi zu beschleunigen, müssten sich die Muslime aus ihrer Erstarrung befreien und kämpfen.
Dieser khomeinistische Aktivismus war vom Aufbruchsgedanken der ägyptischen Muslimbrüder inspiriert. Khomeini waren die Texte dieser Bruderschaft seit den Dreißigerjahren vertraut. Man war sich einig, was als „das Böse“ zu bewerten sei: all die dem Leben zugeneigten Errungenschaften der Moderne, die anstelle der göttlichen Bestimmung die Selbstbestimmung setzen, anstelle blinder Gläubigkeit den Zweifel und anstelle der Scharia-Moral die Sinnesfreude. Jazid verkörperte dem Mythos zufolge all das, was streng verboten war: Er trank Wein, hatte Freude an Musik und Gesang und amüsierte sich mit Jagdhunden und Affen.[26] Und war es nicht bei Saddam Hussein ganz ähnlich? „Das Böse“ war im Krieg gegen den Irak klar definiert und der Sieg über das Böse die Voraussetzung, die Ankunft des geliebten Zwölften Imams zu beschleunigen. Wenn er sich dann auf seinem Schimmel für Minuten wenigstens blicken ließ, potenzierte sich die Bereitschaft zum Märtyrertod.
Natürlich wird uns der Verlust des Selbsterhaltungswillens bei den Bassidschi immer unbegreiflich bleiben. Dennoch gibt es Erklärungen: Erstens Khomeinis religiöse Doktrin vom „jenseitigen Leben“. Zweitens die in der Schia verankerte Kultur der Märtyrerverehrung und des Märtyrerseins. Drittens die mit der Vorstellung vom Zwölften Imam verbundene Hoffnung auf Erlösung, und viertens schließlich jene Mischung aus Gehirnwäsche und materiellem Anreiz, mit der das Mullah-Regime dieses kulturelle Erbe für seine Kriegsinteressen zu instrumentalisieren verstand.
Khomeini hat die Religion der Schiiten, Schia, die über Jahrhunderte für Gewaltlosigkeit und Quietismus stand, djihadistisch radikalisiert. Opfermythos und Erlösungsidee schaukeln sich bei ihm gegenseitig auf: Je selbstloser das von den Muslimen erbrachte das Opfer, desto präsenter die Verheißung des Imam. Je verheißungsvoller die Erlösung durch den Mahdi, desto selbstloser die Bereitschaft zum Märtyrertod. Kein Muslim aber und auch kein Islamist hatte vor Khomeinis Machtantritt an einen „Märtyrertod“ durch „suicid bombing“ gedacht.
Vom Bassidschi zum suicide bomber
Kriegseinsätze, wie die der Bassidschi, waren in der an Grausamkeiten nicht gerade armen Geschichte des Islam unbekannt. Khomeini war sich dessen bewusst. Seine Revolution habe aus den Iranern ein Volk gemacht, dass nicht nur bereitwillig in den Krieg ziehe, erklärte er im September 1982. „Wenn Iraner in den Krieg ziehen wollen, tun sie es so, als wollten sie Hochzeit feiern. Das hat es nicht einmal in der Anfangszeit des Islam gegeben.“[27]
In der Tat! Unbewaffnete Menschen auf Minenfelder und in offene Gefechtsstellungen zu schicken – das brach nicht nur mit den Traditionen des Islam, sondern missachtete auch die Vorschriften des Koran. So heißt es in Sure 2, Vers 195: „Und stürzt euch nicht mit eigener Hand ins Verderben.“ Noch expliziter in Sure 4, Vers 29: „Begeht nicht Selbstmord; siehe, Allah ist barmherzig gegen euch. Und wer dies tut in Feindschaft und Frevel, wahrlich, den werden Wir brennen lassen im Feuer.“
Zwar hatten die sunnitischen Muslimbrüder in Ägypten unter Hassan al-Banna schon in den Dreißiger Jahren den Niedergang der Muslime mit deren „Liebe zum Leben“ begründet und als Gegenmittel die „Sehnsucht nach dem Tode“ propagiert. So schrieb al-Banna in seinem berühmten Essay „Die Todesindustrie“ von 1938:
„Wenn du erpicht bist zu sterben, wird es dir gewährt sein zu leben, wenn du dich auf einen edlen Tod vorbereitest, wirst zu vollständiges Glück erlangen. Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt.“[28]
Und doch hatten weder Hassan al-Banna noch der 1966 in Ägypten hingerichtete Muslimbruder Sayyid Qutb das Instrument des Selbstmordattentats jemals gebilligt geschweige denn propagiert. Sie wollten, dass ein Muslim, der wider Willen in eine ausweglose Situation gerät, eher sein Leben opfert, als kapituliert. Diese Position ist von der Praxis der Bassidschi und der späteren Selbstmordattentäter, sich willentlich in einer nicht ausweglosen Situation in den sicheren Tod zu stürzen, weit entfernt. Der Anstoß für die Weiterentwicklung der Märtyreridee kam aus dem Iran.
Über das Gedankengut der Muslimbrüder war Khomeini seit 1937 informiert. Schon damals hatte einer seiner wichtigsten Gesprächspartner, Mohammad Nawab-Safivi, auf die Anpassung des Muslimbruder-Ansatzes an die schiitischen Traditionen gedrängt.[29] Es bedurfte Khomeinis Machtergreifung von 1979, bevor diese Verschmelzung gelang, bevor sich al-Bannas abstrakter Todeswahn im Märtyrerkult der Bassidschi konkretisierte.
Jetzt begann das Vorbild der Bassidschi auch andere zu inspirieren. So zum Beispiel den südlibanesischen Schiiten Ahmas Qusayr. Dieser 15-jährige sprengte sich mit einer Autobombe, die das israelische Verwaltungsgebäude im libanesischen Tyros in Schutt und Asche legte, am 11. November 1982 in die Luft – das erste islamistisch begründete Selbstmordattentat gegen Israel.
Kurz zuvor hatten iranische Revolutionsgardisten die militärische Ausbildung der schiitischen Jugend im Libanon übernommen. „Es ist die Schulung durch die Revolutionswächter“, berichtet 1987 ein Teilnehmer, „die die islamische Jugend so verwandelt hat, dass sie sich nach dem Martyrium sehnt. Deshalb waren wir auch nicht weiter überrascht, als kurze Zeit nach dem Eintreffen der Revolutionsgardisten ein mit einer 1200 Kilogramm Bombe ausgerüsteter Jugendlicher im Libanon lächelnd in den Tod ging.“[30] Khomeini soll das Attentat des 15-jährigen mit einer Fatwa höchstpersönlich abgesegnet haben. Er erklärte Ahmad Qusayr 1986 zum „Helden des Islam“ und ließ für ihn in Teheran ein Denkmal errichten.[31]
Dennoch setzte sich die neue Djihad-Methode Khomeinis selbst im Lager der Islamisten nur mit Schwierigkeiten durch – zu groß war die Abweichung vom Koran, zu ungewohnt der Bruch mit der Tradition. So war das suicide bombing selbst unter den Rechtsgelehrten der Hisbollah während der Achtziger Jahren umstritten: Liegt die Entscheidung über Leben und Tod nicht allein bei Gott? Musste nicht jedes Mal auch ein „unschuldiger“ Mensch, nämlich der Attentäter, getötet werden? Ist die Tötung von Zivilisten erlaubt?[32]
Es vergingen mehr als zehn Jahre, bevor die sunnitschen Muslimbrüder von Palästina dem Beispiel Ahmad Qusayrs folgten. So starteten die Al-Qassam-Brigaden der Hamas 1993 ihre ersten Selbstmord-Operationen. Die offizielle Billigung ließ zwei weitere Jahre auf sich warten. 1995 erklärte der Hamas-Gründer Scheich Ahmad Jassin die „Märtyrer-Operationen“ für unverzichtbar, „weil sie Juden verwirren und in Angst und Schrecken versetzen“[33] Damit waren die Zweifel an deren religiöse Legitimität nicht vom Tisch. Noch 2001 veröffentlichte der Mufti von Saudi-Arabien eine Fatwa, die das Selbstmordattentat als Verstoß gegen islamisches Recht verurteilt.[34] Erst im Laufe der II. Intifada setzte es sich im sunnitischen Islam durch.
„Der Baum des Islam kann nur wachsen, wenn er ständig mit dem Blut der Märtyrer getränkt wird“, hatte Khomeini während des Krieges gegen den Irak proklamiert.[35] Man wird die Umsetzung dieser Devise als das wohl wichtigste Vermächtnis des Revolutionsführers bezeichnen müssen: Heute ist die mobilisierende Farbe der Schiiten – das Rot des Märtyrerblutes – das Kennzeichen des Islamismus in aller Welt.
Bis 1982 schien es einzig und allein in der Kerbala-geprägten Kultur des Iran möglich zu sein, dass eine Mutter beglückt Gratulationen aus Anlass der Zerfetzung ihres Sohnes entgegen nimmt. Zwanzig Jahre später ist dies auch in den Gebieten der Palästinener eine kulturelle Norm. Mehr noch: Was immer Islamisten seither an militärischen Erfolgen zu verzeichnen haben: Israels Rückzug aus dem Libanon, die Räumung des Gazastreifen, die Zerstörung des südlichen Manhattan oder die Massaker-Serie im Irak – es wurde hauptsächlich mit der von Khomeini etablierten Waffe erzielt.
„Die Palästinener sagen, dass sie ihr Volkserwachen von Imam Khomeini gelernt haben“, schwärmte folgerichtig der Nachfolger Khomeinis, Ali Khamenei, „die Libanesen sagen, dass sie ihren Sieg über die Zionisten der Schule des Imam anrechnen. Die gesamte islamische Elite … führt ihre siegreichen Kämpfe auf der Grundlage der politischen Schule des Imam.“[36]
Die Saat des Revolutionsführes geht auf. Sie ist mit Khomeinis Verbrechen – dem planmäßig herbeigeführten Tod von Hunderttausend muslimischen Kindern in den Wüsten des westlichen Iran – für immer kontaminiert. In jedem Selbstmordattentat sind Elemente jenes Ursprungsverbrechens enthalten: Erstens wurden die Bassidschi nicht in defensiver Absicht in den Tod gejagt. Zweitens fielen den Selbstmordwellen der Bassidschi ausschließlich Muslime zum Opfer. Drittens hatte Khomeini die Lust am eigenen Tod systematisch propagiert und damit Koran-Gebote verletzt.
Von der Wüste ins Labor: Ahmadinejads 2. Revolution
Heute sind die Bassidschi im Iran in jedem Viertel, in jeder Nachbarschaft, in jeder Moschee präsent. Ihre Verbände sind in reguläre paramilitärische Einheiten und in „Spezial-Einheiten“ unterteilt. Sie sind dem Revolutionsführer Ali Khamenei unterstellt und diesem in absoluter Treue ergeben. Ihr Millionenheer rekrutiert sich aus den eher konservativ eingestellten und verarmten Teilen der Bevölkerung, die von den Sozialwerken der Bassidschi profitieren. Seit 1988 wurden sie in erster Linie als „Sittenpolizei“ und ihre Spezial-Einheiten als Schlägertrupps gegen Oppositionelle (wie 1999 und 2003 bei der Zerschlagung der Studentenbewegung) eingesetzt.
Im Sommer 2005 votierte bei den Präsidentschaftswahlen das städtische Bürgertum für Rafsanjani. Ahmadinejad hingegen kam als Kandidat der Bassidschi an die Macht. Seine „zweite Revolution“[37] will die Korruption und die Einflüsse des Westens auf die iranische Gesellschaft ausmerzen. Sie richtet sich besonders gegen diejenigen Teile der Jugend, die während der Präsidentschaft Khatamis die Spielräume individueller Freiheit neu ausgelotet hatten. Den Bassdischi ist in dieser Revolution die Rolle einer „Sturmabteilung“ zugedacht.
Dementsprechend wir der der Einfluss der Bassidschi seit der Präsidentschaftswahl kontinuierlich gestärkt. Ende Juli 2005 kündigte die Bewegung an, ihre Mitgliederstärke von 10 Millionen auf 15 Millionen bis 2010 erhöhen zu wollen. Ihre Spezial-Einheiten sollen bis dahin 150.000 Personen stark sein.[38] Demensprechend üppig wurde der staatlich gewährte Etatsätze für die Bassidschi erhöht.[39] Gleichzeitig sprach man ihnen als inoffizielle Sondereinheit der Polizei neue Machtbefugnisse zu. Was darunter zu verstehen ist, zeigte sich im Februar 2006, als die Bassidschi den Vorsitzenden der streikenden Busfahrergewerkschaft, Massoud Osanlou, überfielen. Sie hielten Osanlou in seiner Wohnung gefangen und schnitten ihm, um ihn zum Schweigen zu bringen, die Zungespitze ab.[40] Kein Bassidschi muss befürchten, für derartige Gewaltakte vor Gericht gestellt zu werden.
Bisheriger Höhepunkt dieser Offensive war die „Bassidschi-Woche“ im November 2005, die neun Millionen Menschen, etwa 12 Prozent der 70 Millionen zählenden Bevölkerung, auf die Straßen brachte. Diese von den westlichen Medien kaum wahrgenommene Mobilisierung kündet von der Entschlossenheit Ahmadinejads, seine „zweite Revolution“ um jeden Preis gegen innenpolitische Widerstände durchzusetzen. Ungeachtet dieser Entwicklung haben die Europäer bislang ihre Geschäftsinteressen über die Verteidigung der Menschenrechte gestellt.
Die zweite Aufgabe der Bassidschi ist die massenhafte Werbung für den Märtyrertod. Es gibt im Iran keine „Wahrheitskommission“, die den staatlichen angeordneten Massen-Suizid zwischen 1980 und 1988 kritisch hinterfragte. Stattdessen erfährt jeder Iraner von klein auf, dass der Märtyrertod etwas Großartiges sei. Jeder kennt den Namen von Hussein Fachmide, der sich 1982 als Dreizehnjähriger vor einem irakischen Panzer in die Luft sprengte. Sein Bild begleitet die Iraner auf Schritt und Tritt: Ob auf einer Briefmarke oder auf einem Geldschein: Wer den grünlichen Fünfhundert-Rial-Schein gegen das Licht hält, wird sein Gesicht im Wasserzeichen sehen. Die Selbstzerstörung dieses Jungen wurde als Exempel vorbildlicher Glaubensstärke verfilmt: als Zeichentrickfilm und als Episode der TV-Serie Kinder des Paradieses.[41] Bassidschi-Gruppen ziehen sich bei öffentlichen Anlässen als Zeichen ihrer Bereitschaft, für die Revolution zu sterben, weiße Totenhemden über ihre Uniformen. Auch in diesem Jahr wurden aus Anlass der Ashura-Feiern Schulklassen über die Märtyrer-Friedhöfe geführt. „Sie tragen Stirnbänder mit Husseins Namen“, berichtete die New York Times. „und marschieren unter Spruchbändern mit der Aufschrift: ,An Märtyrer zu erinnern ist so wichtig wie Märtyrer zu sein’ und ,Eine Nation, für die der Märtyrertod Glück bedeutet, wird immer siegreich sein.’“[42] Seit 2004 wird die Mobilisierung von Selbstmord-Attentätern, die sich für Einsätze im Ausland ausbilden lassen, verstärkt. So wurde eine spezielle Militäreinheit unter der Bezeichnung „Kommando der freiwilligen Märtyrer“ geschaffen. Dieses Kommando will nach eigenen Angaben bisher 54.000 Selbstmordattentäter rekrutiert haben. Es beabsichtigt, in jeder iranischen Provinz eine „Märtyrereinheit“ zu gründen. „Der Feind hat Angst“, prahlt der Führer dieses Kommandos, Mohammadresa Jafari, „dass diese Kultur sich zu einer Weltkultur entwickelt.“ [43] Die Sehnsucht nach dem Tod als „Weltkultur“? Der schiere Wahn als Paradigma des Islam?
Natürlich lehnen die zahlreichen Iraner, die mit dem westlichen Lebenstil sympathisieren, diese Zumutung ebenso ab, wie das Gros der Muslime in der Welt. Doch auch hier hat der Westen versagt. Anstatt das suicide bombing ausnahmslos als Verbrechen gegen die Menschheit zu ächten und auf eine entsprechende Beschlussfassung der Vereinten Nationen zu drängen, wurde wiederum opportunistisch agiert. Heute aber ist die internationale Ächtung des Selbstmordterrors eine entscheidende Voraussetzung für die Isolierung des Iran.
Im Kontext des iranischen Atomprogramms kommt der Bassidschi-Kult der Selbstaufopferung einer brennenden Lunte gleich. Schon ein Blick in die Verfassung des Iran macht klar, dass von einer Beschränkung der Atomenergie für friedliche Zwecke keine Rede sein kann. Dort heißt es in Artikel 151 unter Berufung auf den Koran: „Und rüstet für sie, soviel ihr an Kriegsmacht und Schlachtrossen aufzubringen vermögt, um damit Gottes und eure Feinde einzuschüchtern.“
Die Bassidschi werden heute nicht mehr in die Wüste, sondern in die Labore geschickt. Unter den Bassitschi-Studenten wird gezielt für die Einschreibung in technische Fachbereiche geworben. Es gehe darum, sagt ein Sprecher der Revolutionären Garden, mit dem „technischen Faktor“ zugleich die „nationale Sicherheit“ des Landes zu stärken.[44] Was aber bedeuten Atomwaffen in den Händen derer, die den Tod auf dem Schlachtfeld als einen Sieg der Seele interpretieren?
Irans ehemaliger Präsident Hashemi Rafsanjani gab darauf im Dezember 2001 eine Antwort. Er erklärte, dass „schon eine einzige Atombombe in Israel alles auslöschen“ würde. Ein nuklearer Gegenschlag aber würde „die islamische Welt nur beschädigen. Es ist nicht irrational, diese Möglichkeit zu erwägen.“[45] Rafsanjani machte eine makabere Kosten-Nutzen-Rechung auf. Man werde Israel nicht zerstören können, ohne Schaden zu nehmen. Doch sei der Schaden eines nuklearen Gegenschlags für den Islam verkraftbar. Einige hundert Tausend zusätzliche Märtyrer des Islam – dieser Preis sei nicht zu hoch.
Und Rafsanjani ist ein Repräsentant der „pragmatischen“ Fraktion. Im Gegensatz zur apokalyptischen Fraktion der Revolutionswächter, die schon 1988 ohne Rücksicht auf weltliche Kalküle den Krieg gegen den Irak hatten fortsetzen wollen, sind die „Pragmatiker“ an einem „lohnenden“ Ausgang des Krieges durchaus noch interessiert. Was angesichts dessen Atomwaffen in der Hand der „apokalyptischen“ Fraktion bedeuten könnten, ist kaum auszudenken.
Dieses apokalyptische Denken aber ist bei Ahmadinejad angelegt. Angelpunkt seiner Politik ist der Mythos vom Verborgenen Imam. Sein erste Rede vor den Vereinten Nationen beendet Ahmadinejad im September 2005 mit der flehentlichen Bitte an Gott, die Wiederkehr des Zwölften Imam zu veranlassen. In Teheran finanziert er ein Institut, dessen einzige Aufgabe es ist, die Ankunft des Imam zu studieren und zu beschleunigen. „Die wichtigste Mission unserer Revolution ist die Wegbereitung für die Wiederkehr des 12. Imam“, wiederholt er im November 2005 auf einer theologischen Konferenz.[46]
Politik wird im Bündnis mit einer überirdischen Erscheinung unberechenbar. Warum sollte sich ein iranischen Präsident um das Realitätsprinzip scheren, wenn er davon ausgeht, dass ohnehin bald der große Retter das Ruder übernimmt? Wer wollte schon in Erwartung der Ankunft des Messias kompromissbereit sein? Bis jetzt jedenfalls hat Ahmadinejad geradezu lustvoll auf den Konfrontationskurs gesetzt.
Der Westen wird zum Feind erklärt und die Musik von Mozart bis Madonna aus den Sendern verbannt. Mit Drohungen gegen Israels Existenz wird die Option eines neuen epochalen Verbrechens an Juden zur Regierungspolitik erklärt. Indem er Auschwitz als einen „Mythos“ verlacht, stempelt er die Juden zum universellen Feind, der die Menschheit um des schnöden Mammons willen seit 60 Jahren betrügt und die Lehrstühle und Medien der Welt kontrolliert. Indem Ahmadinejads den Zwölften Imam zur Realität, den Holocaust hingegen zum Mythos erklärt, verabschiedet er sich aus einer Gemeinschaft, die man die „Vereinten Nationen“ nennt.
Es wäre gleichwohl fahrlässig, Ahmadinejad als einen Wirrkopf abzutun. Er verfolgt seine wahnhaften Ziele intelligent. Er agiert als Weltpopulist. Seine Reden sind an die „Unterdrückten“ in aller Welt adressiert. Er kümmert sich um gute Beziehungen zu Fidel Castro und zu Venezuelas Regierungschef Hugo Chávez und kündigt seine Teilnahme am Gipfel der blockfreien Staaten im September 2006 in Havanna an.[47] Gerade weil der Iran um internationale Anerkennung buhlt, ist dessen maximale politische Isolierung das Gebot unserer Zeit. Solange die iranische Führung den Holocaust als Wahrheit und Tragödie nicht anerkennt, ist Irans Mitgliedschaft in den UN zu suspendieren.
Unser Rückblick in die Zukunft beweist, dass das Ungeheuerlichste als selbstverständlich zu erwarten ist. Die Kriegsführung des Iran zwischen 1980 und 1988 liefert lediglich einen Vorgeschmack. Was mit der Räumung von Minenfeldern durch menschliche Bomben begann, ist heute in Gestalt der Selbstmordattentäter die stärkste Waffe des Islamismus weltweit. Die putzige Wüstenshow über den Verborgenen Imam mit bestellten Schauspielern in den Hauptrollen ist zum Showdown zwischen einem irrlichternden Präsidenten und der westlichen Welt eskaliert. Und der Bassitschi, der einst mit einem Stock bewaffnet durch die Wüste lief, arbeitet heute als Chemiker in einem Uranlabor.
[2] Zit. nach Christiane Hoffmann, Vom elften Jahrhundert zum 11. September. Märtyrertum und Opferkultur sollen Iran als Staat festigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 4. Mai 2002.
[3] Zit. nach der ausgezeichneten Zusammenstellung von Wahied Wahdat-Hagh, Bassiji: die revolutionäre Miliz des Iran, in: MEMRI Special Dispatch vom 20.Dezember 2005. (http://www.memri.de/uebersetzungen_analysen/laender/iran/iran_bassiji_20_12_05.html)
[4] So Jannati in seiner Freitagspredigt vom 2. Dezember 2005, zit. nach Wahied Wahdat-Hagh, a.a.O.
[5] MEMRI, Special Dispatch Series – No. 945, July 29, 2005.
[6] Sepehr Zabih, The Iranian Military In Revolution And War, London and New York: Routledge, 1988, S. 241.
[7] Katzman, a.a.O., S. 64.
[8] Instruktuv ist der Bericht des “Kindersoldaten” Reza Behrouzi. Vgl. Sahebjam, Freidoune , „Ich habe keine Tränen mehr“, Reinbek 1988.
[9] Erich Wiedemann, Mit dem Paradies-Schlüssel in die Schlacht, in: Der Spiegel, Nr. 31/1982, S. 93.
[10] Christopher de Bellaigue, Im Rosengarten der Märtyrer, München, 2006, S. 155.
[11] Möller, Harald, Der Krieg zwischen dem Irak und dem Iran: Endogene und exogene Bestimmungsfaktoren – ein Beitrag zur Kriegsursachendiskussion, Dissertation, Berlin 1995, S. 154ff, der die Opferkampagne anhand des 1986 im iranischen Fernsehen gesendeten Propagandafilms „Eine Spende für den Krieg“ analysiert. Hauptfigur ist der zwölfjährige Mohammed, der sich gegen den Rat seiner Eltern auf die Seite des durch einen Lehrer verkörperten Regimes schlägt.
[12] Amir Taheri, Holy Terror. The Inside Story of Islamic Terrorism, London et. al.: Hutchinson, 1987, S. 81 und 33.
[13] Wiedemann, a.a.O., S. 93.
[14] Cordesman und Wagner, S. 181 und 247, sowie Wiedemann, S. 92.
[15] Harald Möller, Der Krieg zwischen dem Irak und dem Iran: Endogene und exogene Bestimmungsfaktoren – ein Beitrag zur Kriegsursachendiskussion, Berlin 1995, S. 151.
[16] de Bellaigue, a.a.O., S. 245.
[17] Ehsan Yarshater, Ta’ziyeh and Pre-Islamic Mourning Rites in Iran, in: Peter J. Chelkowski, Hg., Ta’ziyeh: Ritual and Drama in Iran, New York : New York University Press,1979, pp. 88-94.
[18] Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996, S. 172ff.
[19] Brumberg, Daniel, Khomeini’s Legecy. Islamic Rule and Islamic Social Justice, in: Appleby, R. Scott, Spokesmen for the Despised. Fundamental Leaders of the Middle East, Chicago & London: University of Chicago Press, 1997, S. 56.
[20] So Ahmadinejad in seinem Brief an US-Präsident Bush, zit. nach FAZ vom 17. Mai 2006.
[21] So der gefeierte Pasdaran-Führer Hossein Charrazi, zit. nach Christopher de Bellaigue, Im Rosengarten der Märtyrer, München, 2006,
[22] A.a.O., S. 86.
[23] Saskia Gieling,, The Sacralization of War in the Islamic Republic of Iran, Ridderkerk: Ridderprint, 1998, S. 66 und S. 125f..
[24] Sehabjam, a.a.O., S.136ff
[25] V.S. Naipaul, Eine islamische Reise. Unter den Gläubigen, Berlin: List Taschenbuch, 2002, S. 23.
[26] Möller, a.a.O., S. 153.
[27] Dawud Gholamasad & Arian Sepideh, Iran: Von der Kriegsbegeisterung zur Kriegsmüdigkeit, Hannover 1988, S. 15.
[28] Abd Al-Fattah Muhammad El-Awaisi, The Muslim Brothers and the Palestine Question 1928-1947, London 1998, S. 125.
[29] Vgl. Amir Taheri, Holy Terror, London 1987, S. 97.
[30] So der Bericht von Abbas al-Musawi, zit. nach Joseph Croitoru, Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats, München 2003, S. 128.
[31] A. a. O., S. 132.
[32] Martin Kramer, Hizbullah: The Calculus of Jihad, in: Martin E. Marty und R. Scott Appleby, Fundamentalisms And The State, Chicago 1993, S. 550.
[33] Croitoru, a.a.O., S. 193.
[34] MEMRI, Inquiry and Analysis Series – No. 53 vom 2. Mai 2001.
[35] Zit. nach Nirumand, a.a.O., S. 89.
[36] Memri Special Dispatsch: Iran: Freiwillige Märtyrer und Feiern zu Khomeinis 15. Todestag, 9. Juni 2004.
[37] Vgl. Ayelet Sayvon, The ,Second Islamic Revolution’, MEMRI, Inquiry and Analysis Series, No. 253, November 17, 2005.
[38] IranReloaded, 31. Juli 2005
[39] Wahied Wahdat-Hagh, Europäische Diplomatie in der Sackgasse. Warum der kritische Dialog mit dem Iran scheitern musste, in: Internationale Politik, März 2006, S. 72.
[40] Colin Freeman and Philip Sherwell, Iranian fatwa approves use of nuclear weapons, in: The Sunday Telegraph, February 19, 2006.
[41] Christiane Hoffmann, a.a.O..
[42] Michael Slackman, Invoking Islam’s Heritage, Iranians Chafe at ,Opression’ by the West, in: NYT, February 6, 2006.
[43] MEMRI Special Dispatch, 18. August 2005.
[44] Iranfocus, 12. August 2005.
[45] MEMRI, Special Dispatch Series, No. 325, January 3, 2002.
[46] Paul Huges, Iran president paves the way for arabs’ imam return, reuters, November 17, 2005.
[47] Ahmadinedschad reist nach Kuba, in: Junge Welt, 9. 2. 2006.