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Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Antisemitisch angehauchte Israelkritik ist in Deutschland längst mehrheitskompatibel. Jakob Augstein macht sie nun salonfähig. Wie ernst es ihm damit ist, zeigt nicht zuletzt ein Streitgepräch im "Spiegel"
Die Welt, 15. Januar 2013
Einige von Ihnen werden sich noch an die Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche von Herbst 1998 erinnern, in der er gegen „Auschwitz“ als „Moralkeule“ vom Leder zog. 1.200 Zuhörer erhoben sich damals zu Standing Ovations. Nur einer blieb sitzen und sprach von „geistiger Brandstiftung“: Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Wochenlang stand Bubis mit seiner Kritik allein. Heute gilt als sicher, dass Bubis damals im Recht war, die Masse der Claqueure hingegen nicht.
Seit Anfang dieses Jahres erheben sich erneut einige Tausende, um den Positionen Jakob Augsteins Beifall zu spenden oder sie doch zumindest gegen die Vorhaltungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums (SWZ) zu verteidigen.
Das SWZ veröffentlicht jährlich eine Liste mit den zehn gravierendsten Äußerungen des Antisemitismus bzw. Antiisraelismus. In seiner Aufstellung für 2012 führt es auf dem vorletzten Platz Zitate des Journalisten Augstein an. In Deutschland gelten nicht dessen Äußerungen, sondern deren Platzierung auf der SWZ-Liste als Skandal.
Im aktuellen „Spiegel“ verteidigt Augstein im Streitgespräch mit Dieter Graumann, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, was er schrieb. Er habe die vom SWZ kritisierten „Beiträge noch einmal sorgsam gelesen“ und, abgesehen von einer KZ-Assoziation, „nichts Anstößiges“ daran gefunden habe: „Ich argumentiere rational, und Sie versuchen das auf die Psycho-Ebene zu ziehen.“
Wer genau hinschaut, stellt jedoch fest, dass hier von „rationaler Argumentation“ keine Rede sein kann. In seinen Texten auf Spiegel-online, die der Journalist zwischen September 2011 und November 2012 veröffentlichte, treten die irrationalen Momente offen zutage.
Im Zweifel rechtsradikal
„Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen“, behauptet Jakob Augstein und bringt damit nicht nur jüdische Strippenzieher ins Spiel, die „unsere“ Politik klammheimlich bestimmen. Gleichzeitig wird mit dem Verb „sich beugen“ das Bild des „Erfüllungspolitikers“ evoziert: Der Jude kommandiert, der Deutsche kuscht.
Das ist nicht, wie Augstein seine Spiegel-Rubriken überschreibt, „Im Zweifel links“, sondern im Zweifel rechtsradikal.
Ein einziges Mal habe sich die Bundesregierung nicht gefügt, sondern „kurz versucht, von den Israelis so etwas wie eine Gegenleistung für die deutsche Großzügigkeit zu erlangen“, behauptet Augstein. Und was geschah? „Als die Israelis mit dem Lachen fertig waren, haben sie die palästinensischen Steuergelder freigegeben. Das war‘s.“ So Augstein am 4. Juni 2012 auf „Spiegel online“.
Fantasie von infam lachenden Juden
Mit dem „Lachen“ israelischer Regierungspolitiker beschreibt Augstein keine Realität. Er lässt uns stattdessen an seiner Fantasie teilhaben; einer Fantasie, die um infam lachende Juden und ausgelachte Deutsche kreist. Eine Phantasie, die bei einem Journalisten, der gegenüber dem „Spiegel“ behauptet, „mehr Normalität im Umgang mit Israel (zu haben), als Ihnen [Dieter Graumann] bewusst ist“, erstaunt.
In Augsteins Hymne auf das berüchtigte Israel-Gedicht von Günter Grass taucht jene Fantasievorstellung wieder auf – jetzt aber unter einem umgekehrten Aspekt. Die Zeilen von Grass, begeistert sich Augstein,
„bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ,Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‘ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt.“
Wir sehen hier, wie wichtig es für ihn ist, dass gerade „ein Deutscher“ Israel zum potenziellen Weltbrandstifter erklärt. Hierin liegt für Augstein das Moment, hinter das „wir künftig nicht mehr zurückkommen“ dürfen.
Augstein macht aus seinem Wunsch nach einer Revision der deutschen Israelpolitik keinen Hehl. „Es muss uns endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen“, insistiert er mit Bezug auf die Rede, die die Bundeskanzlerin am 18. März 2008 vor der Knesset hielt. Augstein will „endlich“ den Schatten jener Worte, das heißt den Schatten des Holocaust verlassen. Es gehe heute „nicht um die Geschichte Deutschlands. Sondern um die Gegenwart der Welt“, zwei Dinge, die der Autor fein säuberlich getrennt wissen will.
Verschwörungsfantasien
Verschwörungstheorien stehen im Zentrum des modernen Antisemitismus, wie die „Protokolle der Weisen von Zion“, Hitlers Leitfaden für den Holocaust, beweisen. Die „Juden“, heißt es darin, werden, „sobald ein nichtjüdischer Staat es wagt, [ihnen] Widerstand zu leisten … , den Weltkrieg entfesseln.“ Grass hat als erster prominenter Deutscher die Phantasie vom jüdischen Weltfriedenssaboteur neu popularisiert, Augstein hat sie für den hiesigen Zeitungsbetrieb salonfähig gemacht. Immer wieder blitzt bei ihm das Phantasma jüdischer Allmacht auf, etwa wenn er behauptet, dass „die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband (führt)“ („Spiegel online“, 6. April 2012).
Schon Mahmud Ahmadinedschad hatte 2007 ohne die Spur eines Beweises darauf insistiert, dass die dänischen Mohammed-Karikaturen von Israel initiiert worden seien. Fünf Jahre später spekuliert Augstein, dass auch das Mohammed-Video, das im Herbst 2012 antiwestliche Ausschreitungen provozierte, von Israel initiiert worden sei – ohne Beweise, aber mit suggestiven Anspielungen und Assoziationen. „Wem nützt solche Gewalt?“, müsse fragen, wer wissen wolle, wer hinter derartigen Ausschreitungen steckt. Sie nütze „den US-Republikanern und der israelischen Regierung“, flüstert Augstein uns zu („Spiegel online“, 17. September 2012).
Antiisraelismus
36 Prozent der in Deutschland Befragten stimmten 2008 der Aussage zu: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ Augsteins Kommentare tragen dazu bei, diesen Prozentsatz zu erhöhen.
Seine Israeldarstellung ist von antisemitischen Stereotypen geprägt, etwa wenn er die israelische Politik in einem einzigen Kommentar („Spiegel online“, 19. November 2012) viermal mit dem „Gesetz der Rache“ in Verbindung bringt; wenn er Israels Streitkräften die gezielte Tötung von Kindern unterstellt („Ein 13-jähriger palästinensischer Junge soll vor einer Woche beim Fußballspielen von einem israelischen Helikopter aus erschossen worden sein“) oder wenn er den Gaza-Streifen mit einem KZ assoziiert („1,7 Mio. Menschen hausen da, zusammengepfercht. … Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager.“).
Es ist eben nicht so, dass sich Augstein „kritisch mit der israelischen Politik beschäftigt“, wie der Digitalchef des „Spiegels“, Mathias Müller von Blumencron, schreibt. Augstein unterstellt, dass Israel „an Frieden … kein Interesse“ hat und akzeptiert anschließend nur noch das, was in dieses Wahrnehmungsmuster passt.
Weil Israel keinen Frieden will, „brütet“ es sich in Gaza „seine eigenen Gegner aus“; weil Israel keinen Frieden will, „will (es) gar nicht beweisen …, dass Iran eine Bombe baut“ („Spiegel online“, 6. April 2012); weil Israel keinen Frieden will, setzt es seit 44 Jahren seine Interessen „ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ durch (ebenda, 15. September 2012); weil Israel keinen Frieden will, gehe eine „nukleare Bedrohung, … von Israel für den Nahen Osten aus“ (ebenda, 4. Juni 2012).
„Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich mit dem, was ich schreibe, bremsen müsste“, betont Augstein im „Spiegel“-Gespräch. Dabei hat er auch in diesem Fall keine seiner Behauptungen belegt, eine ist absurder als die andere. Zudem wird bei ihm der regionale Kontext, den jeder Politiker in Israel zu gegenwärtigen hat, so gut wie vollständig ignoriert.
Wenn die Redaktion des „Spiegels“ in Heft 2/2013 erklärt, sie sei bei ihrem Versuch „heraus(zu)finden, warum Augstein auf der Liste gelandet war …, gescheitert“, stellt sie sich ein wahrhaft einzigartiges Armutszeugnis aus. Ihr Eingeständnis „spiegelt“ zugleich, wie es um den Antiantisemitismus in Deutschland steht.
Die Debatte
Die Intervention des Simon-Wiesenthal-Zentrums eröffnet die Möglichkeit einer ernsthaften Debatte über Antisemitismus und Journalismus. Augstein aber demonstriert in der laufenden Ausgabe des „Spiegels“ hundertprozentige Resistenz gegenüber jüdischer Kritik. „Wenn ich sage, dass aus Ihren Kolumnen ein antijüdisches Ressentiment begünstigt wird, dann sollten Sie das ernst nehmen“, bittet ihn Dieter Graumann. Der Zentralratsvorsitzende wolle lediglich zensieren, kontert Augstein, um „Debattenverläufen den Riegel (vorzuschieben).“ Er möge seine Texte, bevor er sie veröffentliche, wenigstens „noch mal … mit Empathie“ lesen, insistiert Graumann. „Das will ich gar nicht“ erwidert Augstein. „Ich möchte … keine verdrucksten Texte schreiben.“
Warum formiert sich eine publizistische Wagenburg, um der Kritik des Wiesenthal-Zentrums ebenso ungeprüft wie unreflektiert zu trotzen?
Gewiss – nicht wenige Berufskollegen halten es für klüger, sich mit dem „smarten Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien“ („Jungle World“), der 24 Prozent der Anteile des „Spiegel“-Verlags kontrolliert, nicht anzulegen. Als Erklärung reicht dies nicht aus.
Unverblümt narzisstisch
Einen Hinweis liefert die Solidarisierung des Journalisten Nils Minkmar, mit dessen Intervention die Debatte am 2. Januar 2013 begann. Dem SWZ sei „ein schwerer intellektueller und strategischer Fehler“ unterlaufen, dozierte der neue Feuilletonchef der „FAZ“. Offenkundig gefiel er sich darin, dem SWZ Ratschläge zu erteilen und dessen Strategie zu bewerten.
Jakob Augsteins Reaktion auf seine Listung war nicht weniger verstiegen: Er zolle dem SWZ für dessen Kampf gegen den Antisemitismus zwar Respekt. Es sei aber „umso betrüblicher“, schrieb er auf Facebook, „wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.“
Unverblümt narzisstisch schwingt sich hier der Angeklagte, noch bevor der (Diskussions-)prozess begonnen hat, zum Richter über seine Ankläger auf. Von Innehalten, Nachdenken, Reflektieren, Debattieren keine Spur.
Wir deutsche Achtundsechziger und Nach-Achtundsechziger, geben Minkmar und Augstein zu verstehen, sind Weltmeister, wenn es um die Auseinandersetzung mit Deutschlands Vergangenheit geht. Wir müssen uns beim Thema Antisemitismus von niemandem belehren lassen und lassen uns auch von niemandem belehren!
Angemaßte Antisemitismuskompetenz
Da kann Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seinem Streitgespräch mit Augstein sagen was er will: Der junge Aufsteiger („Für mich ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust die prägende, politisierende Kindheitserfahrung“) weiß nun einmal besser, was den Kampf gegen den Antisemitismus schwächt und was ihm nutzt. Graumanns Kritik sei „anmaßend“, sie wolle „Debattenverläufen den Riegel vorschieben“ und – sie spiele „den Antisemiten in die Hände.“ („Spiegel“ 3/2013) Der Jude macht es eben selbst, dass die Welt ihm immer feindseliger wird.
Dies gilt besonders für Henryk Broder, auf den die Wut sich konzentriert, weil er Augstein bei amerikanischen Juden denunziert haben soll. Dementis haben in diesem Fall keine Chance: Wem der Ruf des „Nestbeschmutzers“ anhängt ist, findet keinen Pardon.
Daran konnte weder Broders Selbstkritik noch seine Entschuldigung über die Charakterisierung Augsteins als „kleinen Streicher“ etwas ändern: Broder habe sich nur „teilweise“ entschuldigt und „wirklich nur ein wenig Schaum vom Mund (genommen)“, gifteten „Spiegel-online“ und die „Süddeutsche Zeitung“, so als hätten sich nicht schon genug Beteiligte in dieser Auseinandersetzung blamiert.
Dabei hat Broder, wenn es um die angemaßte Antisemitismuskompetenz seiner Kritiker geht, recht: „Die Intellektuellen dieser Republik“, schrieb er am 8. Januar 2013 in dieser Zeitung, „die sonst jedem Zeitgeist auf der Spur sind, klammen sich an einen Begriff von Antisemitismus, der so alt und verstaubt ist, wie eine mechanische Schreibmaschine aus den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. … Sie weigern sich einzusehen, dass auch der Antisemitismus mit der Zeit geht, dass er ein dynamisches und kein statisches Problem ist, dass er sich laufend ändert.“
Angriff in Form einer Zangenbewegung
Würde es diese Weigerung nicht geben, wäre ohne Weiteres klar, was die ägyptischen Muslimbrüder (Platz 1 der SWZ-Liste), das iranische Regime (Platz 2) und der deutsche Verleger (Platz 9) gemeinsam haben: Mursi, Ahmadinedschad und Augstein haben Israel zu ihrem Angriffspunkt erkoren, wobei dieser Angriff in der Form einer Zangenbewegung verläuft.
Am einen Ende dieser Zange sammeln sich die Islamisten, die den jüdischen Staat aus religiösen Motiven auslöschen wollen und heute schon prophezeien, dass er in zehn Jahren nicht mehr existiert. Am anderen Ende der Zange tummeln sich westliche Intellektuelle, die wie Jakob Augstein den Auslöschungsfuror der Islamisten in den westlichen Gesellschaften flankieren, indem sie Israel dämonisieren, dessen Todfeinde aber in Schutz nehmen.
Wie dies geht, demonstrierte Augstein in einer Talkshow, die Günther Jauch im April 2012 zum Thema „Der Blechtrommler – was ist dran an Grass‘ Israel-Kritik?“ veranstaltete. „Israel ist eine größere Bedrohung für den Weltfrieden als Iran“, rief Augstein bei dieser Gelegenheit dem Fernsehpublikum zu – Lüge Nummer eins. Teheran hingegen, fuhr Augstein fort, habe Israels Vernichtung niemals angedroht, diese Behauptung beruhe auf einem „Übersetzungsfehler“ – Lüge Nummer zwei.
Die Kluft
Augstein erhielt in dieser Fernseh-Debatte den mit Abstand meisten Applaus. Kein Wunder! Dass ein antisemitisch angehauchter Antiisraelismus in der deutschen Bevölkerung mehrheitsfähig ist, ist durch zahllose Umfragen bewiesen. Bisher existiert jedoch zwischen diesem Massenbewusstsein und der historisch begründeten Israel-Haltung der deutschen Eliten eine sorgsam gehütete Kluft.
Jakob Augstein möchte diese Kluft so schnell wie möglich schließen. Auch deshalb soll mithilfe der laufenden Debatte die Antisemitismus-Latte derart hoch gelegt werden, dass er mit seinen als „Israelkritik“ daherkommenden Tiraden bequem darunter durch laufen kann.
Sollte es ihm gelingen, aus der Auseinandersetzung mit dem Simon-Wiesenthal-Zentrum als „moralischer Sieger“ herauszugehen, hätte er nicht nur einen Gutteil dieses Ziels erreicht. Er hätte zugleich demonstriert, dass es „heute schlimmer (ist), jemanden einen Antisemiten zu nennen, als einer zu sein“, wie „Zeit“-Herausgeber Josef Joffe sarkastisch bemerkt.
Ich glaube nicht, dass es soweit kommt. Was die internationale Antisemitismusforschung in den letzten Jahrzehnten zu Tage gefördert hat, lässt sich für ein paar Tage unter den Teppich kehren – auf Dauer aber nicht. Wenn die Affekte dieser Debatte abgeklungen und die Pulverschwaden verraucht sein werden, wird sich die Berechtigung der Kritik des Wiesenthal-Zentrums ebenso unzweifelhaft erweisen, wie sich die Bubis-Kritik des Jahres 1998 im Nachhinein als berechtigt erwies.
Am 15. Januar 2013 in der Printausgabe der „Welt“ veröffentlicht.
Die hiervon abweichende Online-Ausgabe, die die „Welt“ am 14. Januar 2013 veröffentlichte, finden Sie hier