Der 7. Oktober und die Shoah

Warum wird über die Kontinuitäten im Antisemitismus der Hamas nicht gesprochen?

Von Matthias Küntzel

Center for Antisemitism- and Racism Studies an der Katholischen Hochschule NRW, Februar 2025

Hitler habe den Menschen einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen, schrieb 1966 der Philosoph Theodor W. Adorno: „im Stande ihrer Unfreiheit […] ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno 1994: 358). Wurde am 7. Oktober 2023 dieser kategorische Imperativ negiert? Ist an diesem Tag, ungeachtet der Kluft, die zwischen Auschwitz und dem Massaker der Hamas besteht, etwas „Ähnliches“ geschehen?

Am Shabbat des 7. Oktober schufen Hamas-Terroristen und der Palästinensische Islamische Djihad im Süden Israels die Hölle auf Erden. Hier wurde den Israelis und Juden nicht einfach der Krieg erklärt, hier wurde ihre Auslöschung angekündigt. Die Verbrennung ganzer Familien bei lebendigem Leibe, die Verstümmelungen, die brutalen Vergewaltigungen und die Folterungen – all dies war kein Werk von gemeinen Mördern, die zum eigenen Vorteil oder aus Berechnung getötet haben, sondern von radikalen Judenfeinden, in deren Augen jeder Jude schuldig ist, weil er Jude ist, und die deshalb eine edle und höhere Mission verfolgen: die Welt judenrein zu machen (Buske 2023). „Unser Auftrag war nur zu töten“, erklärte später einer der Täter – „töten, ohne zwischen Männern, Frauen und Kindern zu unterscheiden. Jeden zu töten, den du siehst.“ (Herf 2024)

Darf man beim 7. Oktober an die Massaker und Massenverbrechen der Nazis denken, fragte sich die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller. „Ich glaube, man sollte es sogar tun“, fuhr sie fort, „weil die Hamas selbst die Erinnerung an die Schoa wachrufen wollte. Und sie wollte demonstrieren, dass der Staat Israel keine Garantie mehr für das Überleben der Juden ist.“ (Müller 2024)

Es ist aber nicht nur das Vorgehen der Mörder, das an den Sadismus der Nationalsozialisten erinnert. Frappierender noch ist die Ähnlichkeit der Motive. So kommt, wer die ideologischen Ursprünge des Hamas-Angriffs ergründen will, an der Judenpolitik der Nazis und den Wirkungen, den diese in der arabischen Welt hinterließ, nicht vorbei. Es gibt klar identifizierbare Stränge der Kontinuität, die den antijüdischen Terror der Nazis mit dem der Hamas verbinden.

Der Holocaust als Ansporn

Einer dieser Stränge hat mit der simplen Tatsache zu tun, dass es den Nationalsozialisten gelungen war, Jüdinnen und Juden massenhaft zu vernichten. Radikale Islamisten sehen darin einen Ansporn. Sie haben, während die Ermordung der sechs Millionen für das Gros der Menschheit ein gigantisches Verbrechen ist, die Shoah als von Gott gewünscht verteidigt.

So zum Beispiel Sayyid Qutb, der berühmteste Ideologe der Muslimbruderschaft, jener Organisation, als deren palästinensischer Ableger sich die Hamas versteht. Er war der erste, der Anfang der 1950er Jahre die Shoah als eine von Allah erzwungene Strafe beschrieb: „Dann ließ Allah Hitler über sie [die Juden] herrschen”, schrieb er in seinem Pamphlet Unser Kampf mit den Juden, allerdings müsse „die schlimmste Art der Bestrafung“ noch erfolgen, der Holocaust also noch vollendet werden (Nettler 1987: 86f).

2009 knüpfte Scheich Yusuf al-Qaradawi an Qutbs Lob für Hitler an. Al-Qaradawi war zu diesem Zeitpunkt der bedeutendste und populärste Sprecher der Muslimbruderschaft. Dies sind die Worte, die er Anfang 2009 dem Millionenpublikum des TV-Senders Al Jazeera zurief:

„Im Laufe der Geschichte hat Allah den Juden Personen aufgezwungen, die sie für ihre Korruption bestrafen. Die letzte Bestrafung wurde von Hitler durchgeführt. Er hat es geschafft, ihnen ihren Platz zuzuweisen. Dies war eine göttliche Bestrafung. So Allah will, wird die nächste Bestrafung seitens der Gläubigen erfolgen.“

Die Juden hätten die Shoah schuldhaft („Korruption“) ausgelöst, behauptet hier al-Qaradawi; doch Hitler habe es geschafft, sie zu bestrafen. Mehr noch: Bei dem millionenfachen Mord habe es sich um eine „göttliche Bestrafung“ gehandelt. Sie habe aber nicht ausgereicht. Eine weitere Bestrafung sei notwendig, diesmal durch die Muslime. So kündigte al-Qaradawi allen Ernstes einen erneuten Massenmord in der Tradition des Holocaust und Israels Ende an: als religiöse Mission und als Allahs Gebot. (al-Qaradawi 2009)

Sein Aufruf ist kein Einzelfall. In ihrer maßgeblichen Studie über die arabischen Antworten auf den Holocaust berichten Meir Litvak und Esther Webman, dass die Rechtfertigung des Holocaust „nicht auf marginale oder radikale Zirkel beschränkt war, sondern auch bei Produzenten der Mainstream-Kultur in Erscheinung trat, ohne im arabischen öffentlichen Diskurs entschiedene Kritik oder Verdammung zu provozieren.“ (Litvak/Webman 2009: 195) So hat es auch keinen nennenswerten öffentlichen Protest gegen den Aufruf al-Qaradawis gegeben.

Nationalsozialismus, Muslimbruderschaft und Hamas

Ein weiterer Strang der Kontinuität hat mit der Ideologie-Geschichte der Hamas zu tun. Deren Dachorganisation, die Muslimbruderschaft, erhielt bereits in den 1930er Jahren Gelder vom Nazi-Regime aus Berlin, „deren Summe beträchtlich höher lag als die Beträge, die anderen antibritischen Aktivisten angeboten wurden.“ (Lia 1988: 175) Nationalsozialistische Agenten kümmerten sich um die Ausrichtung ihres Führungspersonals: sie hielten gemeinsame „Palästina-Treffen“ ab und veranstalteten gemeinsame Schulungsabende über „die Judenfrage“. Neue Archivfunde belegen, dass die deutsche Regierung die Zusammenarbeit mit den Muslimbrüdern auf höchster Ebene verfolgte und dass „GOEB. (Goebbels) mit viel Lob darüber gesprochen“ hat. (Küntzel 2024: 32)

Bereits 1937, elf Jahre vor der Gründung Israels, wurde in einem Pamphlet (Islam und Judentum), das die Nazis später massenhaft und in verschiedenen Sprachen in der muslimischen Welt verbreiteten, der Judenhass aus frühislamischen Quellen mit Elementen des europäischen Antisemitismus kombiniert. Darin ist nicht länger von Zionisten, sondern vom globalen Judentum als einem geschlossenen Kollektiv mit unveränderbaren Eigenschaften die Rede. Dessen Feindschaft gegenüber dem Islam sei „uralt und in den jüdischen Seelen seit der Ankunft Mohammeds verwurzelt“; sie sei als „ewige Feindschaft“ keineswegs an den Palästinakonflikt gebunden: „Wer denkt, dass dann, wenn das Palästina-Problem gelöst ist […] alles gut sein wird, der irrt“, heißt es im arabischen Original dieser Schrift. „Auch dann wird sich an deren Feindschaft gegenüber dem Islam und den Arabern nichts ändern. Allah wird dafür sorgen, die Juden zu demütigen und ihr Rückgrat zu zerschlagen.“

Zugleich reduziert Islam und Judentum den Koran und die komplexe Biografie Mohammeds auf ein einziges Thema: die vermeintliche Todfeindschaft gegenüber den Juden. Deren vermeintliche Versuche, den Propheten zu töten, werden nicht als zeit- und ortsbezogene Episoden behandelt, sondern als Beleg für die vermeintliche Notwendigkeit, den von Mohammed begonnen Krieg gegen die Juden hier und heute fortzusetzen (Küntzel 2019: 64f).

1939 starteten die Nazis ihre Radiopropaganda in arabischer Sprache, die Goebbels‘ antisemitischen Antizionismus zwischen April 1939 und April 1945 allabendlich in die arabische Welt brachte. Die Programme wurden von den Kurzwellen-Sendeeinrichtungen in Zeesen, einem Ort südlich von Berlin, ausgestrahlt und zeichneten sich durch zwei Besonderheiten aus: Zum einen tarnten sich die deutschen Radiomacher als besonders gläubige Islam-Freunde. Zum anderen waren die Sendungen aus Berlin von einem rabiaten Antisemitismus geprägt. „Tötet die Juden, steckt ihren Besitz in Brand, zerstört ihre Geschäfte, vernichtet diese niederträchtigen Helfer des britischen Imperialismus!“ tönte es zum Beispiel in arabischer Sprache aus Berlin, als Rommels Panzerarmee Afrika 1942 auf Kairo vorrückte (Herf 2010: 268f).

Für die arabische Welt erwies sich diese sechsjährige massenhafte Dauerbeschallung als Zäsur, welche die Geschichte des Nahen Ostens in ein Vorher und ein Nachher teilt: Sie beförderte eine ausschließlich antijüdische Lesart des Koran, popularisierte den antisemitischen Weltverschwörungsmythos und prägte eine völkermörderische Rhetorik gegenüber dem Zionismus (Herf 2009; Motadel 2014; Küntzel 2019).

Nach 1945 blieb dieser Antisemitismus im arabischen Raum virulent. Hier hatte sich inzwischen die Muslimbruderschaft mit über einer Millionen Mitglieder als die damals weltweit größte antisemitische Bewegung etabliert (El-Awaisi 1996: 135).

Als 1946 der Kriegsverbrecher und Himmler-Freund Amin al-Husseini unbehelligt nach Kairo zurückkehrte, zeigte sich die Bruderschaft begeistert:

„Dieser Held“, erklärte sie, „kämpfte mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands […] gegen den Zionismus. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin el-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“ (Herf 2010: 285)

In der Tat trugen der Mufti und die Muslimbrüder in den Folgejahren maßgeblich dazu bei, den UN-Teilungsplan für das Mandatsgebiet Palästina, den die Vereinten Nationen im November 1947 beschlossen hatten, zu Fall zu bringen (Küntzel 2019: 111-140).

Zwar erlitten 1948 die arabischen Staaten bei dem Versuch, das in diesem Jahr gegründete Israel auszulöschen, eine Niederlage, doch blieb die Idee, Israel zu zerstören, weiter virulent. Der Judenhass der Muslimbruderschaft inspirierte Navvab Safawi, den Gründer der iranischen Terrorgruppe Fadayan-i Islam sowie den iranischen Geistlichen Ruhollah Musavi, der später als Ruhollah Khomeini berühmt werden sollte. Khomeinis antisemitische Auftritte aus den 1960er Jahren leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Islamischen Revolution im Iran 1979 (Küntzel 2009: 99-124). Seither ist Teheran das Zentrum bei der Bemühung, Israel – und das heißt: die Juden in Israel – zu vernichten.

Eben dies schrieb sich 1987 die von Teheran unterstützte Hamas auf ihre Fahnen. Sie wollte und sie will den zerstörerischen Plan, den Nazi-Deutschland einst entwickelt hatte, vollenden. Es ist kein Zufall, dass sie hierfür in ihrem Gründungsdokument, der Hamas-Charta von 1988, eben jene antisemitischen Parolen zitiert, die Jahrzehnte zuvor über das Nazi-Radio in Zeesen in die arabische Welt gelangt waren. Es handele sich um einen Judenhass, der so „klingt, als ob er direkt von den Seiten des Stürmer abgeschrieben“ sei, hat Sari Nusseibeh, der langjährige Präsident der palästinensischen al-Quds-Universität in Jerusalem, zutreffend bemerkt (Nusseibeh 2007: 282).

So werden in dieser Charta „die Juden“ zum globalen Feind erklärt, der nicht nur sämtliche Medien kontrolliere, sondern auch beide Weltkriege angezettelt habe. Die Juden, heißt es in diesem Grundsatzdokument,
„standen hinter dem Ersten Weltkrieg, wo sie es schafften, den Staat des islamischen Kalifats zu beseitigen […], und sie standen hinter dem Zweiten Weltkrieg, wo sie gewaltige Profite aus ihrem Handel mit Kriegsgütern erzielten […]. Es gibt keinen Krieg, der hier und da in Gang ist, ohne dass sie ihre Finger dahinter im Spiel haben.“ (Hamas-Charta 1988, zit. n. Baumgarten 2006:219)

Wie Adolf Hitler in Mein Kampf führt auch die Hamas in ihrer Charta die Protokolle der Weisen von Zion als Beleg für jüdisches Verhalten an, um in Artikel 7 der Charta auf ihre religiöse Wurzel zurückzukommen und den Propheten Mohammed mit folgendem Satz zu zitieren: „Die Zeit der Auferstehung wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten.“ (Baumgarten 2006: 211)

Zu dieser Ankündigung passen auch die Funde, die israelische Soldaten im Gaza-Streifen machten, wie zum Beispiel das Buch des Hamas-Mitgründers Mahmoud al-Zahar mit dem Titel Das Ende der Juden, das den Holocaust verklärt und dazu aufruft, ihn zu vollenden (Sarisohn 2024).

Wir haben es hier mit einem Judenhass zu tun, den die Nazis im Nahen Osten ein gutes Jahrzehnt vor der Gründung Israels zu schüren begannen – einem Hass, der das antijüdische Ressentiment aus der Zeit des Frühislam nutzt und radikalisiert und der stets eher Ursache für die Gewalt im Nahen Osten, denn eine Reaktion darauf gewesen ist. Dieser Hass richtet sich gegen alle Juden, egal wie sehr sie sich für das Einvernehmen mit Palästinensern engagieren, was bei vielen der am 7. Oktober Ermordeten der Fall gewesen ist; und er richtet sich gegen alles, was auch immer Israel tut.

Man werde ein Massaker wie jenes des 7. Oktober stets aufs Neue wiederholen, erklärte die Hamas, bis Israel gänzlich vernichtet sei (Haaretz 2023). Wären die israelischen Streitkräfte an diesem Tag nicht dazwischen gegangen, hätten die Vernichtungskommandos der Hamas und des Islamischen Djihad ohne Ende weiter gemordet. Allerdings weist der Judenhass der Hamas und der anderen palästinensischen Terrorgruppen im Vergleich mit dem der Nazis nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch wichtige Unterschiede auf.

Djihad und Judenhass

Zu den Gemeinsamkeiten gehört die paranoide Projektion. Die Nazis waren davon überzeugt, dass die Juden Deutschland vernichten würden, wenn man ihnen nicht zuvorkäme. Sie projizierten ihre eigenen Vernichtungsfantasien auf die Juden. So behauptete Josef Goebbels wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Tschechoslowakei: „Die Juden haben Schuld! Sie wollen Krieg und tun alles in ihrer Macht Stehende, um die Völker in den Krieg zu treiben.“ (Herf 2006: 55)

Bei den Islamisten haben wir ein ähnliches Phänomen: Sie glauben und sie propagieren permanent, dass die Juden nicht nur die Al Aqsa-Moschee in Jerusalem, sondern den Islam insgesamt vernichten wollten. So rechtfertigt die Hamas ihren Krieg gegen Juden und auch das Massaker des 7. Oktober mit der frei erfundenen Behauptung, Israel wolle die Al Aqsa-Moschee, das drittwichtigste Heiligtum des Islam, „judaisieren“ (Hamas Media Office 2024).

Aus dieser Projektion erwächst eine weitere Gemeinsamkeit: Sie zeigt sich in dem, was der Holocaust-Forscher Saul Friedländer als redemptive antisemitism, als Erlösungsantisemitismus, bezeichnet hat (Friedländer 2006). Ebenso wie die Nazis glauben auch die Hamas-Kader den eigenen Lügen über den destruktiven Einfluss der Juden weltweit. So wie den Nazis die Zerstörung des Judentums als das entscheidende Mittel galt, um die Welt mit einem ewigen deutschen Frieden zu beglücken, so basiert auch der Antisemitismus der Hamas auf einer destruktiven Utopie, der zufolge die Vernichtung der Juden die Voraussetzung für die Befreiung der Menschheit sei; diesmal jedoch unter einem islamistischen Vorzeichen.

Während somit die Binnenlogik der antisemitischen Wahnidee wichtige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Antisemitismen aufweist, dominieren bei der Ausführung der Mordtaten die Unterschiede. So erinnerten die sadistischen Exzesse der Hamas und der anderen Terrorgruppen an den schrankenlosen Terror früherer Pogrome, wie es sie im zaristischen Russland gab. Demgegenüber galt der Nazi-Führung der Gefühls- und Radauantisemitismus der „Straße“ als vulgär. Man setzte stattdessen einen riesigen bürokratischen Apparat in Gang, um den millionenfachen Mord an Juden „sachlich“ und mit kaltem Blut vollziehen zu können. Die Ausrottung der Juden war eingebunden „in eine intellektuell anspruchsvoll drapierte und ,rationalen‘ Prinzipien folgende Analyse.“ (Herbert 1996: 284)

Während die Nazis die Verbrechen der Shoah notdürftig zu verstecken suchten, griffen die Hamas-Islamisten zu Bodycams und Helmkameras, um ihre bestialischen Morde über die sozialen Medien zu verbreiten. Sie wollten, wie vor ihnen der „Islamische Staat“, die ganze Welt als Zuschauer an ihren Grausamkeiten teilhaben lassen, um „den Terror in das Herz des Feindes zu injizieren“, wie Pierre André Taguieff schreibt. Es ging darum, unter Juden Panik und Verzweiflung auszulösen und gleichzeitig die „Gläubigen“ mit ihrem Jubel und ihrer Siegesgewissheit anzustecken (Taguieff 2025). „Wir folgen dem Beispiel unseres verehrten Propheten“, prahlte im November 2023 Hamas-Führer Khaled Mash’al. „So Allah will, wird man in einigen Jahren über die Lage in der Region nach dem Ende Israels sprechen müssen.“ (MEMRI 2023a)

Das religiöse Motiv war auch bei Yahya Sinwar, dem Planer und Anführer des 7. Oktober, zentral. Er glaubte an die Paradies-Verheißungen des Koran und daran, dass der Judenmord Voraussetzung für die Rettung der Welt und die Auferstehung der Muslime sei. Kein Wunder also, dass auf den GoPro-Videos der Hamas-Terroristen niemand von einer Befreiung Palästinas spricht, sondern stattdessen Loblieder auf den Propheten Mohammad und Allah erklingen. „Sie folgen der Idee eines religiösen Kampfes, nicht der Idee einer nationalen Befreiung. Das erlaubt es ihnen, aus einem Gefühl der Mission und des Glaubens heraus Gräueltaten zu begehen“, erläutert der israelische Sozialwissenschaftler Ido Zelkovitz. (Ilnai und Piatov 2024)

Die religiöse Gewissheit vom bevorstehenden Ende Israels brach sich am 7. Oktober Bahn: Die Allahu akbar-Rufe, welche die wie im Blutrausch begangenen Verbrechen begleiteten, zeugten nicht nur von dem Spaß und der Lust, welche die Mörder bei ihren Verbrechen hatten, sondern ebenso von der festen Überzeugung, dass mit dem Massaker kein Menschenwerk, sondern ein Dienst für Allah verrichtet werde.

Zwar hat die Hamas das Phantasma, dass das Judentum ein Feind der Menschheit sei, den es auszurotten gelte, von Europa und insbesondere Nazi-Deutschland adaptiert. Dieser europäische Antisemitismus wurde jedoch in Verbindung mit den fanatischen und judenfeindlichen Elementen des Islam weiter radikalisiert (Küntzel 2023). Am 7. Oktober explodierte das tödliche Gemisch aus modernem Antisemitismus, islamischen Judenhass und religiösem Endkampf-Phantasma.

Das Versagen der Welt

Dass dieser erneute Massenmord an Jüdinnen und Juden nicht verhindert werden konnte, zeugt von einem Versagen der israelischen Sicherheitsapparate und der westlichen Welt; ja, von einem Versagen der Weltgemeinschaft insgesamt: Was an diesem 7. Oktober geschah, war ein Massaker mit Ansage. Denn die Hamas hat ihre Mordabsichten nie versteckt. Sie hat, ganz im Gegenteil, den Judenmord nur wenige Jahrzehnte nach Auschwitz zu einer religiösen Pflicht erklärt.

„Wir müssen jeden Juden auf dem Planeten Erde angreifen“, erklärte 2019 Fathi Hamad, der ehemalige Hamas-Innenminister von Gaza in einer Rede, die der Hamas-Fernsehsender Al-Aqsa übertrug. „Wir müssen sie mit Allahs Hilfe abschlachten und töten […] Wir werden sie zerfleischen und in Stücke reißen, so Allah will.“ (MEMRI 2023b) Yahya Sinwar, der Drahtzieher des großangelegten Angriffs vom 7. Oktober 2023 warnte Ende 2022:

„Wir werden mit ungezählten Raketen zu euch kommen, wir werden in einer grenzenlosen Flut von Soldaten zu euch kommen, wir werden mit Millionen unserer Leute zu euch kommen, wie die wiederkehrende Flut.“ (Meier 2024)

Die Weltöffentlichkeit aber, die alljährlich des Holocaust gedenkt, wollte und will hiervon und von den Androhungen der Hamas-Charta kaum etwas wissen. So wie sich die Welt 1933 weigerte, Hitlers Judenhass beim Wort, also ernst zu nehmen, so weigerte sich die internationale Gemeinschaft einige Jahrzehnte später, die genozidalen Ankündigungen der Hamas und anderer islamistischer Gruppen ernst zu nehmen. Sie tat so, als wolle die Hamas gar nicht das, was sie fordert. So kam es, dass allein die Islamisten das Massaker des 7. Oktober vorhersahen und in ihren Predigten ersehnten; der Rest der Welt wurde überrascht.

Und was geschah danach? Wie haben die Weltöffentlichkeit und der Westen angesichts der Erfahrung des Holocaust und angesichts von 40 Jahren „Holocaust-Education“ auf den 7. Oktober reagiert?

Bis heute verweigert das Gros der nicht-jüdischen Welt dem terroristisch attackierten Israel Beistand und Solidarität. Sie lässt damit – wie bereits 1938 – die Jüdinnen und Juden im Stich. Im Juli 1938 weigerten sich 31 der 32 Staaten, die an der Konferenz von Evian teilnahmen, jüdische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem von Nazis besetzten Österreich aufzunehmen. Dazu war einzig die Dominikanische Republik bereit (Gutman 1995: 426f). 85 Jahre später ist erneut von einer Empathie mit Jüdinnen und Juden, die sich weltweit mit einem massiven Anstieg antisemitischer Anfeindungen konfrontiert sehen, wenig zu spüren.

So unterstützen 32 Staaten und zwei Staatengruppen die unerhörte Anschuldigung Südafrikas, das von der Hamas angegriffene Israel betreibe Völkermord an den Palästinensern. Nur zwölf Länder sprachen sich gegen das skandalöse, Opfer und Täter verkehrende Verfahren aus, das von Südafrika beim Internationalen Gerichtshof beantragt wurde.

Und was am meisten erstaunt: Bis heute gibt es kaum eine ernsthafte internationale Auseinandersetzung über die Frage, was am 7. Oktober qualitativ zum Ausbruch kam und wie der hier an den Tag gelegte Frauen- und Judenhass zu erklären und künftig zu verhindern ist. Zwar haben Holocaust-Forscher viel über den eliminatorischen Antisemitismus geschrieben. Nach dem 7. Oktober blieb dieses Wissen jedoch weitgehend ungenutzt: Die Charta der Hamas hat in den nachfolgenden Debatten, von Ausnahmen abgesehen, kaum eine Rolle gespielt. So wurde, was Jüdinnen und Juden weltweit als Teil des globalen jüdischen Schicksals und als existentiell einschneidende Zäsur empfanden, an Universitäten und von Regierungsagenturen der westlichen Welt als Episode behandelt: man machte weiter, als sei nichts geschehen.

Gleichzeitig schlugen die anfänglichen Solidaritätsbekundungen mit Israel binnen kürzester Zeit in Bezichtigungskampagnen um. Im „globalen Süden“ wie auch in der westlichen Welt wurde Israel die Schuld am Hamas-Terror in die Schuhe geschoben. An Universitäten und bei Massenaufmärschen wurde das Massaker der Hamas als Antwort auf 56 oder auch 75 Jahre „Besatzung“ interpretiert und Israel für den Gaza-Krieg verantwortlich gemacht (Linfield 2023; Schmid 2024). Leider haben sich auch prominente Holocaust-Forscher bei dem Versuch, die Gründe für das Massaker hauptsächlich bei dessen Opfern zu suchen, unrühmlich hervorgetan; Professoren, die es eigentlich besser wissen müssten. Zu ihnen gehört Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown Universität in Providence, Rhode Island, USA.

Israels Schuld?

Auf die Frage nach den Ursachen für das Massaker des 7. Oktober erwähnte Bartov in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau Mitte Oktober 2023 den Antisemitismus der Hamas mit keinem Wort, so als würde es diesen überhaupt nicht geben. Er erweckte dadurch den Eindruck, als habe der Überfall auf Israel mit Judenhass nichts zu tun.

Stattdessen machte er für die Gräueltaten einzig Israels Politik und die „Unterdrückung von Millionen von Palästinensern“ verantwortlich. Diese habe auf deren Seite „zu Gewalt, zu Wut und Rachedurst“ geführt. Der „verabscheuungswürdige Angriff der Hamas“ müsse deshalb „als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Palästinenser zu lenken.“ (Seidler 2023) Diese Deutung geht an der Wirklichkeit vorbei.

Erstens verkennt sie das Vorgehen und damit auch das Motiv der Hamas: Der 7. Oktober war keine spontane Rache- und Wutaktion, sondern ein strategischer Schlag, der jahrelang penibel vorbereitet worden ist. Die Hamas-Oberen geben offen zu, dass ihr Vorgehen die „Notlage der Palästinenser“ keineswegs lindern sollte. Sie profitieren ganz im Gegenteil von der sich anschließenden Katastrophe im Gaza-Streifen, weil sie Israel umso wirksamer an den Pranger stellen und das eigentliche Ziel, die Auslöschung Israels und der Juden, umso besser verfolgen können.

Zweitens war das Massaker keine Antwort auf Provokationen Israels. Israels Regierungen hatten sich, ganz im Gegenteil, darum bemüht, die Lage im Gazastreifen zu stabilisieren und den Lebensstandard zu heben. So erlebte Gaza in den Monaten vor dem 7. Oktober einen relativen wirtschaftlichen Aufschwung. Israels Regierung begünstigte diese Entwicklung: Sie duldete über Jahre hinweg, dass Gelder aus Katar an die Hamas gelangten und gestattete, dass Zehntausende Gaza-Bewohner ihr Geld in Israel verdienen. Die Hoffnung, Wohlstand würde den Judenhass stoppen, erwies sich jedoch als Illusion; am 7. Oktober folgte die grausame Quittung.

Drittens stellt Bartov „Millionen von Palästinensern“ mit den Weltanschauungskriegern der Hamas auf eine Stufe und nivelliert damit die Vielfalt an Positionen, die es auch in diesem Lager gibt. Bei ihm scheinen „Palästinenser“ ausschließlich Opfer zu sein, die keine andere Wahl haben, als hilflos, mit „Wut und Rachedurst“, zu reagieren. Er ignoriert, dass die Hamas mit eigenem Programm und in eigener Verantwortung entschlossen agiert, um anstelle Israels ihren Gottesstaat zu errichten.

Viertens ist sich die Forschung weitgehend darin einig, dass Antisemitismus ein Phantasma ist, das mit real existierenden Jüdinnen und Juden oder mit Kritik an deren Aktivitäten nichts zu tun hat. Bartov distanziert sich von diesem Konsens, wenn er in dem erwähnten Interview behauptet, dass Israel den Hamas-Terror des 7. Oktober verursacht habe. Er ignoriert, dass der Antisemitismus auf Gerüchten und paranoiden Wahnvorstellungen basiert. Antisemiten töten und
diskriminieren, ohne dass jüdisches Verhalten hierfür einen Anlass gibt. Es gab für die Ermordung der sechs Millionen oder für die Pogrome, die den Ritualmordanschuldigungen folgten, keine rationalen Gründe. Es gibt sie auch nicht für das Massaker des 7. Oktober; dieses war durch schieren Hass und die bösartigste aller Ideologien motiviert.

Fünftens aber redet Bartov einer Opfer-Täter-Umkehrung das Wort. Seine Sichtweise setzt zwingend voraus, dass das ideologische Programm der Hamas und der Anteil, den dieses Programm vom Nationalsozialismus übernommen hat, aus dem Blickfeld verschwindet. Wer aber vom Antisemitismus der Hamas nichts wissen will, muss sich deren Terror anders erklären. Und was liegt da näher, als Israel die Schuld daran zu geben und bei noch mehr Terror Israel noch mehr Schuld zu geben – eine fatale „Logik“, die in letzter Konsequenz auf die Schlussfolgerung hinausläuft: je brutaler der Hamas-Terror, desto ungeheuerlicher Israels Schuld.

Diese pervertierte Logik dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass dem beispiellosen antisemitischen Verbrechen vom 7. Oktober eine ebenso beispiellose globale Welle von Israelhass und Antisemitismus folgte.

Beide Irrtümer hängen zusammen: Erstens werden die Verbrechen der Hamas von ihren ideologischen Quellen abgekoppelt und dadurch entschuldigt oder rationalisiert; zweitens wird dadurch einem Klassiker des modernen Antisemitismus – der Behauptung, dass Juden selbst schuld daran seien, wenn sie verfolgt werden – Raum verschafft. Das Dogma, dass Israel schuldig sei, basiert auf dem Dogma, dass es eine Verbindung zwischen dem Antisemitismus der Hamas und dem der Nazis nicht gebe; das eine ist Voraussetzung für das andere.

Dass dieses Muster selbst bei einem verdienten Forscher wie Omer Bartov seine Spuren hinterlassen hat, ist durchaus erstaunlich. Denn Bartov hatte, bevor er als prominenter „Israelkritiker“ in Erscheinung trat, den Nazi-Bezug der Hamas-Charta durchaus erkannt und öffentlich angeprangert. In einem Aufsatz von 2004 bezeichnete er die Charta als „die klarste und erschreckendste Verbindung zwischen Hitlers Antisemitismus und der heutigen Welle von Gewalt, Hass, Paranoia und Verschwörungstheorien“; sie enthalte „die unverhohlensten antisemitischen Bekundungen in einem öffentlichen Dokument seit Hitler.“ Es gebe somit, „eine dem Antisemitismus Hitlers ähnliche Qualität im neuen Antisemitismus.“ Das bedeute, so Bartov in der deutschen Version seines Aufsatzes von 2004 (die er 2019 unverändert neu veröffentlichen ließ), „dass der Islamismus einen sehr europäischen, nazi-ähnlichen, genozidalen Antisemitismus in sich aufgenommen hat.“ (Bartov 2019: 54f.)

Tabu-Thema Holocaust?

Von diesen richtigen Einsichten wollte Bartov jedoch im Zusammenhang mit dem 7. Oktober nichts mehr wissen. So kritisierte er in dem weiter oben erwähnten Interview, das die Frankfurter Rundschau eine Woche nach dem Massaker publizierte, alle Versuche, den Terror der Hamas mit dem Holocaust in irgendeine Beziehung zu setzen. Er bezeichnete sie als „falsch, irreführend und ideologisch getrieben“. (Seidler 2023)

Am 20. November veröffentlichte er gemeinsam mit bekannten Autoren wie Christopher R. Browning, Michael Rothberg und A. Dirk Moses sowie zwölf weiteren Kolleginnen und Kollegen einen „Offenen Brief über den Missbrauch der Holocaust-Erinnerung“. Darin wenden sich die Unterzeichner, unter ihnen die Direktorin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Stephanie Schüler-Springorum, nicht nur gegen einen Missbrauch des Gedenkens, wie er zum Beispiel in der inflationären Verbreitung von Holocaust- und Nazi-Analogien zum Ausdruck kommt. Sondern sie lehnen auch bei dem Bemühen, die Ursachen des Massakers vom 7. Oktober zu verstehen, jedwede Bezugnahme auf den Nazismus und den Holocaust ab. Sie bezeichnen in ihrem Brief die Anknüpfung an den Holocaust als „intellektuelles und moralisches Versagen“ (Open Letter 2023).

Zwar räumt der Offener Brief ein, dass der 7. Oktober viele Jüdinnen und Juden an die Shoah und auch an frühere Pogrome erinnert habe. Zugleich weist er diese Assoziation aber vehement zurück: „Die Berufung auf die Erinnerung an den Holocaust verstellt den Blick auf den Antisemitismus, dem Juden heute ausgesetzt sind, und stellt die Ursachen der Gewalt in Israel und Palästina gefährlich falsch dar.“ (Ebd.; Hervorhebung M.K.)

Diese Kernaussage des Offenen Briefes ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Sie unterstellt zum einen, dass der Antisemitismus, dem Juden „heute“ ausgesetzt sind, mit dem Judenhass, der im Holocaust gipfelte, wenig oder nichts gemein habe. Dies ist, wie wir bereits gesehen haben, falsch. Die ideologischen, historischen und semantischen Beziehungen, die den Antisemitismus der Hamas mit dem der Nazis verbinden und die wissenschaftliche Literatur, die diesen Zusammenhang belegt, kann mittlerweile nur noch übersehen, wer sie partout übersehen will. Wer dies ausblendet, macht aber nicht nur allein Israel für den Judenhass in der arabischen Welt verantwortlich, sondern verharmlost ihn, indem er ihm ein gleichsam rationales Motiv unterstellt.

Ein Beispiel für diese Verharmlosung lieferte der amerikanische Politikwissenschaftler Marc Lynch. Lynch ging im Rahmen einer Buchbesprechung in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs auf den weiter oben zitierten al-Qaradawi ein, der den Holocaust als „göttliche Bestrafung“ bezeichnet und erklärt hatte: „So Allah will, wird die nächste Bestrafung seitens der Gläubigen erfolgen.“ Lynch sah darin keinen Antisemitismus. Für ihn war diese Drohung lediglich Ausdruck von Israelkritik. Sie zeige, so Lynch, dass al-Qaradawi „gewiss feindselig gegenüber Israel“ eingestellt sei (Lynch 2010a).

Damit aber war der Autor des rezensierten Buches, Paul Berman, nicht einverstanden: Lynch verstecke sich „hinter Euphemismen, in diesem Fall seine Formulierung ‚feindselig gegenüber Israel‘, obwohl er eigentlich ‚hitlerisch‘ meint“, schrieb Berman in der Folgeausgabe von Foreign Affairs (Berman 2010). Lynch aber wollte von dieser These, dass er „hitlerisch“ gemeint haben könnte, nichts wissen. Stattdessen bestand er auf seiner Position: Al-Qaradawi habe mit seiner Holocaust-Äußerung „eine extrem feindliche Sicht auf Israel zum Ausdruck gebracht“, so seine Erwiderung (Lynch 2010b).

Gegen alle Evidenz verteidigt hier Lynch, wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen, das Dogma der Diskontinuität – also die These, dass es zwischen Hitlers Hass auf Juden und dem islamistischen Hass auf Israel keinerlei Verbindung gibt. Fehleinschätzungen dieser Art trugen und tragen erheblich dazu bei, dass der radikale Judenhass der Muslimbruderschaft und der Hamas auf die leichte Schulter genommen und die Katastrophe des 7. Oktober ermöglicht wurde.

In dem Offenen Brief von Bartov und anderen heißt es, die Berufung auf die Erinnerung an den Holocaust stelle „die Ursachen der Gewalt in Israel und Palästina gefährlich falsch dar“. Besteht also, wenn ich mein Wissen über den Holocaust mit dem 7. Oktober in eine Beziehung setze, eine „Gefahr“? Und um welche Gefahr handelt es sich?

Der Kontext des Offenen Briefes gibt hierüber Auskunft. Während das Massaker der Hamas wiederholt als current crisis („momentane Krise“) verharmlost wird, erheben die Unterzeichner den Vorwurf der „großflächigen Tötung“ allein gegenüber Israel, dessen 75-jährige Geschichte sie für die „Gewaltspirale“ verantwortlich machen. „Es gibt keine militärische Lösung in Israel-Palästina“ schrieben sie wenige Wochen nach dem 7. Oktober, ohne zu sagen, wie der Mordrausch der Hamas nicht-militärisch hätte beendet werden können.
Offenbar ist für sie „die Berufung auf die Erinnerung an den Holocaust“ deswegen „gefährlich falsch“, weil dieser Aspekt die Dichotomie von angeblicher zionistischer Perfidie auf der einen und palästinensischer Unschuld auf der anderen Seite untergräbt.

Natürlich kann Benjamin Netanjahu und die von ihm verantwortete Art der Kriegsführung kritisiert werden. Es gibt gleichwohl kein Argument, welches das Ausblenden der realen Bedrohungen Israels und die Ignoranz gegenüber der Ideologie seiner Feinde rechtfertigt. Wer dies dennoch tut, dämonisiert Israel, indem er den Eindruck erweckt, das Land wolle mutwillig Krieg. Dies aber unterscheidet eine ernsthafte Kritik an der israelischen Regierung von der ansonsten so verbreiteten „Israelkritik“: In dem einen Fall wird die besondere Gefährdung des Landes berücksichtigt, während im anderen Fall dieser Kontext israelischer Existenz verleugnet oder verschwiegen wird.

Beispielhaft für dieses Verschweigen ist die Erklärung The Elephant in the Room, die Bartov und andere am 17. August 2023 veröffentlichten. Hier wurde ausschließlich das „Besatzungsregime“ Israels an den Pranger gestellt, ohne die Feinde Israels auch nur zu erwähnen (Bartov et.al. 2023a). 49 Tage nach Veröffentlichung dieser Erklärung, die binnen einer Woche über 2.000 Unterzeichner fand, überraschte die Hamas mit ihrem Massaker die Welt. Nun entpuppte sich der islamische Antisemitismus als der eigentliche Elephant in the Room, also als das Phänomen, das niemand sehen will, obwohl es omnipräsent ist. Bei dieser spezifischen Blindheit ist es auch nach dem 7. Oktober geblieben: Fast alle Unterzeichner der Elephant-Erklärung blieben bei ihrer Position.

Neue Historiker

Am 8. Dezember 2023 reagierten die Historiker Jeffrey Herf und Norman J.W. Goda auf den „Offenen Brief über den Missbrauch der Holocaust-Erinnerung“. Sie veröffentlichten ein von 31 weiteren Wissenschaftlern unterzeichnetes Kritik-Papier, das den pauschalen Vorwurf des Holocaust-Missbrauchs zurückweist. Sie bezeichnen darin die Ereignisse des 7. Oktober als „den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust“ und betonen, dass es ideologisch „eine Verbindung zwischen den Nazis und der Hamas“ gibt.

Sie thematisieren „die ausgeprägte Form des islamistischen Judenhasses“, „die in den 1930er Jahren mit der Muslimbruderschaft aufkam“ und betonen, dass „diese Mischung aus islamistischem und europäischem Judenhass zwar nicht von der gesamten arabisch-muslimischen Welt geteilt wird, aber gleichwohl hinsichtlich der Existenz eines jüdischen Staates einen Schatten auf den Nahen Osten geworfen hat.“ Sie kritisieren die antizionistische Stoßrichtung des Offenen Briefes und fordern abschließend einen „unvoreingenommenen Blick auf die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Hamas-Diktatur und ihrer Aktionen“. (Herf und Goda: 2023)

In seinem jüngsten Buch Israel Alone würdigt der französische Essayist Bernard-Henri Lévy den von Herf und Goda gegründeten Kreis als eine „Gruppe von neuen Historikern, dessen Mitglieder […] die Verbindungen zwischen dem Nazismus und der arabisch-muslimischen Welt dokumentiert haben“. (Lévy 2024: 119f)

Gleichwohl wiesen die Unterzeichner des „Offenen Briefes über den Missbrauch der Holocaust-Erinnerung“ die Kritik von Herf und Goda in einer kurzen Replik zurück. Wer behaupte, heißt es in dieser Erwiderung, dass es bestimmte ideologische Gemeinsamkeiten zwischen dem Nationalsozialismus und der Hamas gäbe, würden lediglich „dem Mythos eines nazi-ähnlichen islamischen Antisemitismus“ auf den Leim gehen (Bartov et. al.: 2023b).

Ein Mythos? Ein Phänomen, dass es in Wirklichkeit gar nicht gibt? Eine solch offenkundig ignorante Haltung ist intellektuell unhaltbar. Dies gilt besonders für Omer Bartov, der vor wenigen Jahren noch schrieb: „Wenn eine selbsternannte Befreiungsorganisation die Vernichtung des jüdischen Staates verlangt, darf man nicht so tun, als verlangte sie etwas anderes. Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.“ (Bartov 2019: 55) Wie wahr!

Versagen der Holocaust-Erziehung

Der Nahost-Konflikt wurde zwischen 1937 und 1945 nazifiziert. Eine Entnazifizierung hat in den nachfolgenden Jahrzehnten nie stattgefunden. Heute wollen viele von dieser verstörenden Wirklichkeit – der Tatsache, dass mit dem Antisemitismus im Nahen Osten ein Stück NS-Geschichte in die Gegenwart hineinragt – nichts wissen. Ohne Entnazifizierung wird es Frieden im Nahen Osten aber nicht geben.

Wenn Bartov und dessen Mitunterzeichner sämtliche Assoziationen mit der Shoah so vehement zurückweisen, flüchten sie vor dieser Wirklichkeit: Seit dem 7. Oktober lassen sich Holocaust-Geschichte und Gegenwart nicht länger trennen. Andersherum kann das Massaker kaum begreifen, wer nicht den Holocaust und die ihm zugrunde liegende Bedeutung des Antisemitismus mit in Betracht zieht.

Auch deshalb sollte der 7. Oktober Anlass sein, den Holocaust wissenschaftsgestützt zu vergegenwärtigen und allen Versuchen entgegenzutreten, die Erinnerung an die Shoah seitens postkolonialer, sich als progressiv verstehender Milieus infrage zu stellen (Klävers 2023) oder sie als Feigenblatt abzutun, hinter dem die israelische Regierung angebliche Untaten verbirgt.

Die Monate nach dem Massaker haben ein Versagen der bisherigen westlichen Holocaust-Erziehung kenntlich gemacht. Diese wollte in ihren mehrheitlichen Ausprägungen von den Nachwirkungen der Nazi-Ideologie in der muslimischen Welt nichts wissen. Im November 2023 räumte dies Dani Dayan, der Vorstandsvorsitzende von Yad Vashem, auch für israelische Perspektiven ein: „Wir in Yad Vashem sind Experten für die Nazi-Ideologie, nicht für die barbarische Ideologie der Hamas. Wir haben sie nicht erforscht.“ (Kauschke 2023)

Damit muss es ein Ende haben. Der 7. Oktober zeigt, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Die Gegenwart erfordert eine neue Bezugnahme auf den Holocaust. So sollte künftig jedes Shoah-Gedenken ein Anti-Antisemitismus-Gedenken sein, welches den genozidalen Judenhass, der nach Auschwitz und im Nahen Osten weiterlebt, und der Israel in seiner Existenz bedroht, nicht länger tabuisiert. Leider ist man davon, wie die Holocaust-Gedenkfeiern seit dem 7. Oktober zeigen, weit entfernt.

Gleichzeitig müsste der Kampf gegen den Antisemitismus stets mit dem Ziel einer Holocaust-Awareness geführt werden, bei der es nicht nur um die Einzigartigkeit des Verbrechens, sondern auch um die Einzigartigkeit des Hasses geht, die dieses möglich machte.

Zurück zu Adornos kategorischer Imperativ, demzufolge die Menschheit ihr Denken und Handeln so einzurichten habe, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ Ist am 7. Oktober 2023 „Ähnliches“ geschehen?

Ja und nein. Wenn auch die Kluft zwischen dem Massaker und dem beispiellosen Verbrechen Auschwitz unüberbrückbar bleibt, gibt es Ähnlichkeiten im Detail. So erinnert die Mord-Besessenheit der Täter des 7. Oktober an den Fanatismus der Nazis. Ebenso ähnelt das Gefühl absoluter Hilfslosigkeit bei den Opfern des 7. Oktober der Hilfslosigkeit der Shoah-Opfer. Allerdings konnten die einen im Gegensatz zu den anderen auf Rettung durch israelische Streitkräfte hoffen – ein wesentlicher Unterschied, der nochmals die Bedeutung des jüdischen Staates Staat gewordenen Zionismus in Erinnerung ruft.

Das Massaker des 7. Oktober war keine regionale Episode, über die man schnell hinweggehen könnte, sondern es beendete einen historischen Zeitabschnitt. Zwischen 1945 und 2023 waren antijüdische Pogrome aufgrund der zeitlichen Nähe zum Holocaust verpönt. Seit dem 7. Oktober und der massenhaften Zustimmung zum Massaker in Hörsälen, auf Demonstrationen und in sozialen Netzwerken ist dieses Tabu gefallen: Der mörderische Judenhass ist zurück. Plötzlich gibt es sie wieder: die Jagd auf Juden, wie in Amsterdam (Rodan-Benzaquen 2024) und in Dagestan (Strandberg 2023) und die vorbereitende Kennzeichnung von Häusern, in denen Juden wohnen. Wir haben es mit dem Beginn eines neuen und globalen antisemitischen Kriegs zu tun, bei dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen müssen, weil sie alle angegriffen werden.

Diejenigen aber, die wie Omer Bartov und andere, die ideologische Verbindung zwischen dem Hamas-Massaker und der Shoah bestreiten und stattdessen Israel für den 7. Oktober verantwortlich machen, haben diesen Zusammenhang nicht nur nicht begriffen, sondern tragen zur Verbreitung von Antisemitismus und Israelhass bei.

Dabei stehen die Zeichen weiter auf Sturm: Die Abwehrkämpfe der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas, die Hisbollah und das iranische Regime haben die Kräfte des Islamismus in der Region zwar geschwächt, nicht aber besiegt. Diese bereiten sich weiterhin darauf vor, den jüdischen Staat Israel vollständig auszulöschen – ein Ziel, dass sie explizit und lauthals der ganzen Welt verkünden. (Grigat 2023)

So erklärte Irans Revolutionsführer Ali Khamenei, dass spätestens 2040 Israel nicht mehr existieren werde. Eine Countdown-Uhr in Teheran zeigt die Anzahl der noch verbleibenden Tage bis zu diesem vermeintlichen Ende an (Büscher 2024). Offenbar wollen die Islamisten dafür sorgen, dass etwas „Ähnliches“ wie Auschwitz tatsächlich geschieht. Wird die Menschheit nach dem Holocaust und den Verheerungen des 7. Oktober ein drittes Mal versagen, anstatt den Judenhass rechtzeitig in die Schranken zu weisen?

Derzeit leben 47 % des Weltjudentums in Israel. Deshalb wird es, so Alvin Rosenfeld, „ohne den Staat Israel keine jüdische Zukunft geben, die diesen Namen verdient.“ (Rosenfeld 2024) Israel ist heute aber nicht nur als Schutzraum für Juden wichtiger denn je. Sondern es war immer auch Symbol für Anderssein und Differenz. Das Gegenkonzept der Hamas ist die faschistisch durchgesetzte Homogenität. Israel ist kein besseres Land als andere Länder, aber seine Existenz entscheidet über die Zukunft der Welt.

Diesen Text veröffentlichte am 26. Februar 2025 das “Center for Antisemitism and Racism Studies” der Katholischen Hochschule NRW als CARS Working Papers #027. Sie finden diese Originalversion mit mehrseitigen Literaturangaben und zusätzlichen Fußnoten hier.

Eine leicht gekürzte englische Version dieses Textes veröffentlichte das “Institute for the Study of Contemporary Antisemitism” der Indiana University als ISCA Research Paper 2024-5. Sie finden diesen Text hier.

Bild: Ein Hamas-Terrorist schießt in einen Schutzbunker auf dem Supernova-Festival, 7. Oktober 2023 · Quelle: Wikimedia · Lizenz: Public Domain