Neuestes Buch:
Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Die Attentate von London und die deutsche Reaktion
Juli 2005
Eigentlich waren wir schon dabei, die Vokabel „Feind“ aus unserem moralischen und politischen Wortschatz zu streichen. Ein „Feind“ – war das nicht lediglich ein Freund, um den man sich nur noch nicht genügend bemüht hatte?
Damit ist es vorbei. In London und Madrid wurden 250 Menschen auf dem Weg zur Arbeit ermordet. Wir müssen erkennen, dass es auch in Europa Menschen gibt, die uns hassen, die uns als ihre Feinde betrachten und die uns deshalb töten wollen.
Während die Mörder von Madrid ihren Sprengstoff in Verkehrsmitteln zurückließen, sprengten sich in London erstmals Selbstmordattentäter in die Luft. Der suicide bomber ist deshalb schon die Horrorfigur schlechthin, weil ihm eine Konstante der menschlichen Natur, der Selbsterhaltungstrieb, zu fehlen scheint. Sein Einsatz erzwingt ein Klima des Ausnahmezustands: Hier der neue Polizeistaat, dort die Panik der potentiellen Opfer, die sich weniger gegen die unsichtbare Ideologie als gegen den Phänotyp des Täters, also rassistisch, entlädt. Dieser suicide terror provoziert schon deshalb, weil jeder diesen Spuk so schnell wie möglich wieder los sein will, einen gedanklichen Kurzschluss, der so funktioniert: Da es ungerecht zugeht in dieser Welt und sich Spanien und Großbritannien auf den Irakkrieg eingelassen haben, schlug al-Qaida zu. Ergo sollte sich, wer in Ruhe gelassen werden möchte, von Washington rechtzeitig distanzieren.
„Zahlt Tony Blair nun den Preis für seine Vasallentreue gegenüber dem amerikanischen Freund George W. Bush?“ fragt zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung und stellt fest: „Der Ort des Anschlages ist nach der Logik der Attentäter gut gewählt: Am Tavistock Square liegen viele Touristenhotels, die vor allem von Amerikanern bevorzugt werden.“[1] Die Frankfurter Allgemeine analysiert, dass in London „internationale Banken und Konzerne ihren Sitz (haben)“ und gibt sich gewiss, dass hier erneut „ein Zentrum der Weltfinanzmärkte in seinem Nerv getroffen werden sollte“[2]. Die Frankfurter Rundschau sieht in einer ersten Schrecksekunde bei den Massakern gar attac-Radikale am Werk. Brigitte Spitz in ihrem Leitkommentar: „Hinweise auf Al Qaida gab es, aber auch den ein oder anderen, der für den Bruchteil einer Sekunde daran dachte, Extremisten aus dem Lager der Globalisierungskritiker könnten damit etwas zu tun haben.“ [3]
Demgegenüber zeichnet der Publizist Amir Taheri in der pan-arabischen Tageszeitung Sharq Al-Awsat ein anderes Bild. Er erinnerte an die letzten Sekunden im Leben des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh, den ein Islamist auf offener Straße ermordet hatte. Zeugenaussagen zufolge soll van Gogh bis zuletzt versucht haben, mit seinem Mörder, Mohammed Bouyeri, zu diskutieren. „Natürlich können wir darüber diskutieren,“ rief daraufhin der Mörder, während er unablässig weiter seine Kugeln in van Goghs wuchtigen Leib feuerte, „lass uns darüber reden!“
„Es tut mir leid, liebe Freude“, fährt Amir Taheri fort, „aber ihr habt es hier mit einem Feind zu tun, der nichts Spezifisches will und der weder durch beredtes Wut-Management noch durch round-table Diskussionen zur Vernunft gebracht werden kann. Anders formuliert: Der Feind will durchaus etwas Spezifisches: er will euer Leben kontrollieren und euch jeden Schritt, rund um die Uhr, vorschreiben. Solltet ihr wagen, dagegen aufzubegehren, wird er es als sein heilige Pflicht betrachten, euch zu töten.“[4]
In der Tat. Da ist zum Beispiel Osama Bin Ladens Offener Brief an das amerikanische Volk, den er gut ein Jahr nach dem 11. September 2001 veröffentlichte und dessen englische Übersetzung seit mehreren Jahren zugänglich ist. Warum warf bin Laden darin den Amerikanern vor, „die schlimmste Zivilisation zu sein, die die Menschheit je gesehen hat“? Seine Antwort: „Weil ihr die Nation seid, die, anstatt mithilfe von Allahs Sharia und seinen Gesetzen zu regieren, es vorgezogen hat, sich eigene Gesetze nach eurem Willen und nach euren Bedürfnissen zu schaffen.“
Hier haben wie das A und O des islamistischen Programms: Schluss mit demokratischer Selbstbestimmung! Unterwerft euch Allah und seinem heiligen Gesetz! „In erster Linie“, heißt es hier weiter, „sollt ihr euch dem Islam anschließen … Wir rufen euch auf …, die immoralischen Akte der Unzucht, der Homosexualität, der Rauschmittel, der Glücksspiele und des Zinshandels zurückzuweisen.“ Wer aber wird für diese Machenschaften verantwortlich erklärt? Die Juden! In seinem Brief an das amerikanische Volk schreibt bin Laden, dass „die Juden in all ihren unterschiedlichen Formen und Verkleidungen die Macht über eure Medien und eure Ökonomie gewonnen haben und nun alle Aspekte eures Lebens beherrschen. Sie machen euch zu ihren Dienern und sie verfolgen ihre Ziele auf eure Kosten.“[5]
Hier wird deutlich, worum es Islamisten geht. Die Selbstbildphantasie dieser Bewegung ist von ihrem Überlegenheitspostulat und Dominanzanspruch geprägt. So wie sich die Nazis mittels ihres biologischen Rassismus als die Retter der Welt verstanden, so verstehen sich die Islamisten als die einzig wahren Nachfolger Muhammads. Ihr Ziel ist Allahs Herrschaft über die Welt, die dem Islam freiwillig beitreten darf oder gewaltsam zu erobern ist. Ihr Widersacher ist der gesamte Westen, der nicht für das angegriffen wird, was er tut, sondern für das, was er seinem Anspruch nach ist: freiheitlich und innovativ, säkular und sexy, individualistisch und offen für unterschiedliche Lebensformen. Juden werden als eine Avantgarde dieser Zivilisation betrachtet, weshalb Islamisten sie als die vorrangig zu vernichtenden Todfeinde betrachten.
Schon die Existenz dieses Briefes zeigt, dass Osama bin Laden und seine Nachfolger eine politische Bewegung repräsentieren: Terror plus religiöse und politische Agitation. Die Massaker von Manhattan, Madrid und London waren für Djihadisten kein Selbstzweck, sondern die Fortsetzung ihrer Politik mit anderen Mitteln. Ihr Endziel – der Sieg über die Ungläubigen der Welt – ist langfristig angelegt. Das Zwischenziel der kommenden Jahrzehnte ist die Auslöschung Israels und die Vereinigung der arabischen Welt unter einer Sharia-Diktatur. Ihr kurzfristiges Etappenziel ist die Vertreibung der USA aus dem Irak und die Transformation dieses Landes in ein neues Afghanistan.
Im Dezember 2003, vier Monate vor den Massakern von Madrid, wurde auf einer islamistischen Website eine Planungspapier von al Qaida veröffentlicht, das deren Irak-Strategie mit unheimlicher Präzision umreißt: „Es ist notwendig, die bevorstehende Wahl in Spanien im März nächsten Jahres so gut wie möglich auszunutzen. Wir gehen davon aus, dass die spanische Regierung höchstens zwei, maximal drei Schläge aushalten kann. Anschließend wird sie sich aufgrund des öffentlichen Drucks [aus dem Irak] zurückziehen müssen. ... Letztlich möchten wir betonen, dass der Rückzug der spanischen oder italienischen Truppen aus dem Irak einen ungeheueren Druck auf die britische Präsenz ausüben würde, ein Druck, dem Tony Blair wohl nicht widerstehen könnte; also würden die Dominosteine in schneller Folge fallen.“[6] Und wenn nach den Briten und allen anderen Europäern am Ende auch die USA den Irak verlassen haben werden? Dann wäre dieses Land mitsamt seiner riesigen Ölvorkommen die neue Operationsbasis der islamistischen Todesideologen, von der aus sie den Heiligen Krieg blutiger als je zuvor in Angriff nehmen könnten.
Kurzfristige Taktik und grundlegende Strategie – wer das eine von dem anderen trennt und die Anschläge als nachvollziehbare Antwort auf britisch-amerikanisches Unrecht verkauft, hat sich bereits zum Handlanger des Terrors gemacht. Der gedankliche Kurzschluss, sich den Terror durch Erfüllung seiner Forderungen vom Hals halten zu können, löscht kein Feuer, sondern entfacht den Flächenbrand. Der Verzicht auf Klarheit ist der Beginn der Komplizenschaft und die Komplizenschaft mit dem Terror ein Selbstmord auf Zeit.
Wenn uns aber al Qaida mit ihrem vordergründigen Politizismus an der Nase herumführt, wie sieht es dann mit sogenannten „moderaten“ islamistischen Bewegungen aus, die – wie die Hiszbollah, die Hamas, oder der Irak- „Widerstand“ – regionale Kampfziele verfolgen? Immerhin haben sich islamistische Gruppen wie die ägyptische Moslembruderschaft oder die Hamas, die ansonsten Selbstmordattentate in Israel oder im Irak anordnen oder feiern, von dem Massaker in London distanziert. Haben wir es hier mit möglichen Gesprächspartnern und einer Alternative zum al Qaida-Terror zu tun? Der Verzicht auf Klarheit ist der Beginn der Komplizenschaft. Der Erwerb von Klarheit aber verlangt einen Blick auf die historischen Wurzeln des islamistischen Djihad.
Anfangspunkt des Islamismus ist die 1928 in Ägypten gegründete Organisation der Muslimbrüder. Die Muslimbruderschaft ist für den modernen Djihadismus das, was die russischen Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts gewesen sind: der ideologische Bezugspunkt und der organisatorische Kern, der alle nachfolgenden Tendenzen maßgeblich inspiriert hat und bis heute inspiriert. Niemand hat die Ideologie der al Qaida-Funktionäre stärker geprägt, als die Kader dieser Organisation. Die Schriften der führenden Muslimbrüder Hassan al-Banna und Sayyid Qutb haben den Islamismus in den Universitäten und Moscheen von Saudi-Arabien, Afghanistan, Sudan und anderswo geprägt. Und es sind die Muslimbrüder von Palästina – die wir unter dem Kürzel HAMAS kennen – die mit ihrer Taktik der suizidalen Massenmorde die 2. Intifada prägten.
1938 machte Hassan al-Banna, der charismatische Gründer der Muslimbrüder, erstmals die Öffentlichkeit in einem Aufsatz unter der Überschrift Die Todesindustrie mit der neuen Djihad-Interpretation seiner Bewegung vertraut – einer Interpretation, bei der das Wort „Todesindustrie“ nicht den Horror, sondern das Ideal beschreibt. Al-Banna: „Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt.“ Hier haben wir die Quelle jener unheilvollen Entwicklung, die 67 Jahre später in den Selbstmordattentaten von London, Bagdad und Natanja kulmuliert. Der Koran, so al-Banna, rufe die Gläubigen dazu auf, den Tod mehr zu lieben, als das Leben. Unglücklicherweise seien die Muslime jedoch von einer ,Liebe zum Leben’ erfasst: Siegen könne aber nur, wer es in „der Kunst des Todes“ zur Meisterschaft bringe. „Bereite dich also darauf vor, eine große Tat zu vollbringen. Wenn du erpicht bist zu sterben, wird es dir gewährt sein, zu leben, wenn du dich auf einen edlen Tod vorbereitest, wirst du vollständiges Glück erlangen.“[7]
Es ist diese todessehnsüchtige Djihad-Interpretion, die heute den Verstand der Islamisten und die Körper der Unschuldigen zerfetzt. Al-Bannas Todesliebe, die im Islam über Hunderte von Jahren kaum eine Rolle gespielt hatte, wurde nun für den Islamismus zum Erkennungszeichen Nr. 1. Das zweitwichtigste Kennzeichen dieser Bewegung ist ihr geradezu archaisch anmutendes Konzept der Unterjochung der Frau sowie – damit zusammenhängend – der Fanatismus, mit dem man alle sinnlichen Versuchungen der Gläubigen bekämpft. Die eifernde Handschrift der Muslimbrüder offenbarte und offenbart sich am eindeutigsten immer dann, wenn sie die stets mit jüdischem Einfluss in Verbindung gebrachten Nachtclubs, Bordelle und Filmtheater ihrer Städte in Schutt und Asche legten, was in periodischen Abständen geschah und bis heute geschieht.
Das dritte Kennzeichen des Islamismus ist sein Antisemitismus: Nicht als antikoloniale, sondern als antijüdische Bewegung wurden die Muslimbrüder zur Massenorganisation. 1936 zählten sie in Ägypten 800 Mitglieder, 1938 waren es 200.000. Dazwischen lag ihre erste große, ausschließlich gegen Juden und Zionisten gerichtete Mobilisierungskampagne.
Auslöser war der 1936 vom Mufti von Jerusalem initiierte Aufstand in Palästina. „Nieder mit den Juden“ und „Juden raus aus Ägypten und Palästina“ lauteten die Parolen der Massendemonstrationen, die die Bruderschaft daraufhin in den ägyptischen Großstädten organisierten. Auf Flugblättern rief sie zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte auf. In ihrer Zeitschrift al-Nadhir wurde eine regelmäßige Kolumne mit der Kopfzeile: „Die Gefährlichkeit der Juden von Ägypten“ etabliert. Darin wurden die Namen und Adressen von jüdischen Geschäftsinhabern und Besitzern angeblich jüdischer Zeitungen aus aller Welt veröffentlicht und alles Böse – vom Kommunismus bis zum Bordell – auf die „jüdische Gefahr“ zurückgeführt. Viele Aktionsmuster und Inhalte waren somit dem Nationalsozialismus entlehnt. Dies war keineswegs ein Zufall, war doch der Nationalsozialismus bei der Geburt des Islamismus als Pate stets präsent.
Begeistert berichtete Ende der dreißiger Jahre Giselher Wirsing, ein führender Journalist des Dritten Reiches, nach einer Reise durch Ägypten von der durch die Muslimbrüder angestoßenen „Rückwendung zu den religiösen Überlieferungen des Islams“. Die neue Entwicklung in Ägypten zeige, „wie stark diese Theokratie sich nach der Überwindung des ersten liberalistischen Ansturms wieder zu beleben vermag.“[8] Bevorzugt wurde nun der aufkeimende ägyptische Islamismus mit Nazi-Geldern unterstützt. Aus Dokumenten, die man in der Wohnung des Direktors des Deutschen Nachrichtenbüros in Kairo, Wilhelm Stellbogen, sicher stellte, geht hervor, „dass die Muslimbruderschaft vor Oktober 1939 Subventionen vom DNB erhielt. Stellbogen war am Transfer dieser Gelder an die Bruderschaft beteiligt, deren Summe beträchtlich höher lag als die Beträge, die anderen antibritischen Aktivisten angeboten wurden“[9]
Zu diesem Zeitpunkt war die Tendenz zum Antisemitismus und zum Djihad in der islamischen Welt noch marginal. Immer mehr islamische Länder freundeten sich in den 20er Jahren mit der Moderne an: In der Türkei sorgte Atatürk für die Abschaffung des Kalifats und eine weitgehende Befreiung der Frau, Persien wurde unter Resa Khan säkularisiert und in Ägypten hatte die Moderne schon lange Fuß gefasst: Hier waren die Juden eine gleichberechtigte und geachtete Minderheit.
Die Konterbewegung zur Entmodernisierung und Radikalisierung des Islam ging von zwei miteinander verzahnten Zentren aus: dem Mufti von Jerusalem und der Muslimbruderschaft von Ägypten. Beide Zentren wurden von Deutschland nicht nur finanziell unterstützt; auch die antisemitische Propaganda der Nazis sorgte für Rückenwind, indem sie zum Beispiel den europäischen Topos von der „jüdischen Weltverschwörung“ täglich mithilfe arabischsprachiger Rundfunkprogramme von Berlin aus in arabische Kaffehäuser trug.[10] Bis heute findet dieser ideologische Beitrag der Nationalsozialisten in dem verschwörungstheoretischen und antisemitischen Denken großer Teile der arabischen Welt seinen Widerhall.
Schon der ägyptische Staatschef Gamal Abdel Nasser verbreitete die Zentralschrift des europäischen Antisemitismus, Die Protokolle der Weisen von Zion, in der arabischen Welt. Nachdem Nassers Feldzug gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 kläglich gescheitert war, wurde der Hass auf Juden erneut islamistisch radikalisiert: Der Antisemitismus wurde mit dem Hass der Islamisten auf Sinnlichkeit und Lebensfreude vermischt und als religiöser Widerstand gegen alle „Verderber der Welt“ popularisiert. Jetzt „entdeckte“ man, dass nicht nur alles Jüdische böse, sondern alles „Böse“ jüdisch ist: Der „atheistische Materialismus“ wurde auf den „Juden“ Karl Marx, die „animalistische Sexualität“ auf den „Juden“ Sigmund Freud und die „Zerstörung der Familie“ auf den „Juden“ Emile Durkheim zurückgeführt. Jetzt erklärte man Palästina zum heiligen islamischen Gebiet und Israels Vernichtung zu einer religiösen Pflicht. Jetzt breitete sich ungehindert intellektuelle Verwüstung aus: Man begann, Juden in Anlehnung an Koranverse als „Schweine“ und „Affen“ verächtlich zu machen und bot als wissenschaftliche Erkenntnis die Behauptung feil, dass das Verzehren von nicht-jüdischem Blut ein religiöser Ritus der Juden sei.[11]
So wurde mithilfe eines aus Europa importierten Antisemitismus das Weltbild vieler Muslime in ein dichotomes Muster geteilt: Hier das bedrohte Gute, dort das jüdisch-westliche Böse. Entweder Vernichtung des Bösen, oder aber eigener Untergang. Dem Wahnbild folgte die Tat: 1982 begann die iranisch finanzierte Hizbollah, Menschen systematisch als Bomben einzusetzen. Der Hass auf Juden war nun größer als die Furcht vor dem Tod; die Ideologie der Vernichtung schlug in die Praxis der Zerfetzung beliebiger Juden um. 1988 schließlich verabschiedete die Hamas ihre bis heute gültige Charta der Hamas. Darin werden Juden als die Drahtzieher der französischen und russischen Revolution ausgemacht und für den I. Weltkriegs und gar auch für den II. Weltkrieg sowie für die Verbreitung von Rauschgift und Unmoral überall in der Welt verantwortlich gemacht. Wer aber, wie die Hamas, die Juden im Nazi-Stil für alles Schlimme auf dieser Erde verantwortlich macht, muss Israel als das vermeintliche Zentrum des Übels auslöschen wollen.
Die Charta der Hamas ist aber mit der Programmatik Osama bin Ladens nicht nur kompatibel, sondern – bezogen auf die Region des Nahen Ostens – deckungsgleich. Kein Wunder – war es doch eine in Palästina verehrte Gründungsfigur der Hamas, Abdullah Azzam, die Osama bin Laden mit dem Djihadismus überhaupt erst vertraut gemacht hat.[12] Warum aber wird von europäischen Regierungen und Medien diese Verbindung zwischen dem weltweiten suicide terror und dessen regionalen Ablegern in Palästina beständig ignoriert?
Die Anschläge im U-Bahnnetz haben die Verbundenheit mit den vom Terror gepeinigten Irakis und Israelis nicht verstärkt. Auf das Entsetzen über London folgte die routinierte Indifferenz, als Selbstmordattentäter zwei Tage später im israelischen Netanja fünf Zivilisten und im Irak 25 Kinder töteten. Mehr noch: Während keine europäische Regierung auf die Idee kommen würde, mit den Vertretern der al Qaida Verhandlungen aufzunehmen, geschieht genau dies mit den Befehlsgebern der Selbstmordattentate der Hamas: Stolz gab deren Führung im Juni 2005 bekannt, dass ein hoher Beauftragter der Bundesregierung mit ihnen in Ramallah sowie in Gaza-Stadt Gespräche aufgenommen habe.[13] Auch für Europa gilt, was der Irakische Premierminister Ibrahim al-Ja’fari für die arabische Welt beklagt: „Verbrechen, die im Irak verübt werden, werden nicht als Terrorismus bezeichnet. … Die ehrenwerte irakische Frau wird getötet, doch dies gilt nicht als Terrorismus; das unschuldige irakische Kind wird gemordet, doch die arabischen Medien nennen es nicht Terrorismus.“ [14]
Wer dem London-Terror einen Hamas- bzw. Irak-Widerstand gegenüberstellt, achtet suicide bomber, anstatt sie zu ächten. Der Islamismus wird auf diese Weise nicht isoliert, sondern hofiert und die Rede vom Kampf gegen djihadistischen Terror dementiert.
Dieser Trennungsstrich – das bedeutsamste Kennzeichen der deutschen Antwort auf London und Madrid – ist in der Sache widersinnig und beweist, dass die Verantwortlichen das Wesen dieser Anschläge nicht erfassen wollen. Denn alle Merkmale des Islamismus, die die Muslimbrüder in den 30er Jahren entwickelten, sind heute nicht nur bei al Qaida, sondern auch bei der Hamas und dem „Irak-Widerstand“ präsent: Erstens der Todeswahn: Die Parole, die die Führer der Hamas und die Führer der al-Qaida ausgeben, gleicht sich auf das Wort: „Wir lieben den Tod. Ihr aber liebt das Leben.“[15] Dazu kommt das Verdikt, jedwede menschliche Freiheit dem Islam unterzuordnen. „Am Ende muss sich jeder Palästinenser zum muslimischen Leben bekehren“, droht beispielsweise der neue Führer der Hamas, Mahmud el-Saha, in einem Interview mit dem Corriere della Serra. „Unsere Religion wird die westliche Dekadenz in nur einem einzigen Jahrzehnt besiegt haben.“[16] Zweitens treiben alle drei Bewegungen die Unterjochung der Frau auf die Spitze und praktizieren das drakonische Regiment der Sharia. So ließ die Hamas im April 2005 ein 22-jährige Palästinenserin unmittelbar vor deren Heirat ermorden, weil man sie mit ihrem Verlobten in der Öffentlichkeit sah. Später verbot die Hamas in der von ihr kontrollierten Stadt Qalqiliya ein Musikfestival mit der Begründung, dass das gemischte Zusammensein von Männern und Frauen nach dem Koran verboten sei.[17] Drittens aber gleichen sich alle drei Bewegungen in ihrem antisemitischen Wahn.
Der Trennungsstrich zwischen London, Bagdad und Netanja ist auch moralisch haltlos, weil er die außereuropäischen Opfergruppen des Terrorismus– Israelis, Irakis – anders kategorisiert, als die Opfer der europäischen Großstadt. Immerhin wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 200 suizidale Massenmorde gegen Israelis begangen. Im Irak wurden zwischen 2003 und 2005 gar mehr als 500 Selbstmordattentate durchgeführt.[18]
Dieser Trennungsstrich ist politisch kontraproduktiv, da er nicht nur jenen Muslimen in den Rücken fällt, die damit begonnen haben, sich prinzipiell vom Islamismus und dessen Politik der Selbstmordattentate abzusetzen. Die von der Europäischen Union praktizierte Unterscheidung zwischen „bösartige“ und „verständliche“ Selbstmordattentate trägt entscheidend dazu bei, die Ächtung dieser Kampfform als „Verbrechen gegen die Menschheit“ seitens der Vereinten Nationen zu torpedieren.
Dieser Trennungsstrich ist langfristig selbstmörderisch, weil er der Salamitaktik der Islamisten entgegenkommt und die Propagandalüge vom Selbstmordterror als „Verzweiflungstat“ bereitwillig kolportiert.
Die deutsche Reaktion auf London gleicht somit einem Januskopf: Nach vorn das grimmige Entsetzen in Richtung Londoner U-Bahnschacht, nach hinten ein verschämtes Grinsen in Richtung der Irak-„Aufständischen“ und der Hamas, denen man zu bedeuten gibt, dass man ihnen den Terror gegen „BushSharon“ nachsehen kann, solange sie nur eins unterlassen: Anschläge bei uns.[19] Diese Haltung ist politisch unverantwortlich und moralisch bodenlos.
Wir haben keine Wahl: Wenn Islamisten in den individuellen Freiheitsrechten und der Gleichstellung der Frau einen Angriff sehen, der Massenmord legitimiert, dann müssen wir uns und diese Rechte verteidigen. In den Worten von Leon de Winter: „Der Islamist zwingt mich, in seiner Welt als Antagonist aufzutreten und dementsprechend auf sein Handeln zu reagieren. Weil er mich als seinen Feind ansieht, zwingt er mich, ihn als meinen Feind anzusehen.“[20] Der islamistische Terror ist ein Faktor europäischer Politik. Man kann ihn politisch und militärisch bekämpfen oder durch Entgegenkommen ermutigen. Ein Drittes gibt es nicht. (Abgeschlossen am 25. Juli 2005)
Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der erstmals am 18. Juli 2005 in der Geschwister Scholl-Universität in München gehalten worden ist. Der gesamte Vortrag ist im Originalton archiviert unter:
http://thinktank34.open-lab.org/mambo/index.php ?option=content&task=view&id=32&Itemid=2
1 Gerd Kröncke: Preis für die Treue. Blair ist der engste Verbündete von Bush – auch das machte London zum Angriffsziel , sowie Wolfgang Koydl und Raphael Honigstein: Die Stationen des Schreckens, in: Süddeutsche Zeitung , 8. Juli 2005.
2 Günther Nonnenmacher, Das Muster des Terrors, und Folker Dries, Besonnen und standfest, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 8. Juli 2005.
3 Brigitte Spitz, Madrid, London, in: Frankfurter Rundschau , 8. Juli 2005
4 Taheris Beitrag erschien am 7. Juni 2005 in Al-Sharq Al-Awsat (London); vgl. Memri: Special Report – Jihad & Terrorism No. 36, July 8, 2005 sowie http://www.benadorassociates.com/article/16672
5 Vgl. Bin Laden’s ,letter to America’, in: Observer, November 24, 2002.
6 zit. nach Robert A. Pape, Al Qaeda’s strategy, in: International Herald Tribune, July 12, 2005.
7 Zit. Nach Abd Al-Fattah Muhammad El-Awaisi, The Muslim Brothers and the Palestine Question 1928-1947, London 1998. S. 125.
8 Giselher Wirsing, Engländer Juden Araber in Palästina, Leipzig 1942, S. 136f.
9 Brynjar Lia, The Society of the Muslim Brothers in Egypt, Reading 1988, S. 175.
10 Siehe hierzu: Matthias Küntzel, Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt, in: D. Rabinovici, U. Speck und N. Sznaider (Hgs.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt/M. 2004, S. 271-293.
11 Diese Behauptung findet sich z.B. in dem Standardwerk über „Das Volk Israels im Koran und in der Sunna“, das der heute renommierteste sunnitische Geistliche und Großscheich der Al-Azhar-Universität von Kairo, Mohammed Tantawi, als Doktorarbeit eingereicht und 1968/69 veröffentlicht hat. Vgl. Wolfgang Driesch, Islam, Judentum und Israel, Hamburg 2003, S. 53 und 74. Tantawis Bestseller wurde zuletzt 1997 aufgelegt.
12 Vgl. Matthias Küntzel, Djihad und Judenhass, Freiburg 2002, S. 125f. Es war ein Gruppe namens „Brigaden von Abdullah Azzam in Ägypten und in Großsyrien“, die im Juli 2005 die Verantwortung für die Massaker im ägyptischen Scharm al Scheich übernahm.
13 Khaled Abu Toameh, Hamas: We met with senior German official, in: Jerusalem Post, June 19, 2005.
14 „Terrorism in Iraq is an example of terrorism in the word”, fährt al-Ja’fari fort, “What happens in our country is a challenge for the whole world … to sand by our side, because the Iraqi sitizen is paying with his blood confronting terrorism.” Vgl. Memri, Special Dispatch Series – No. 934, July 14, 2005.
15 So erklärte der Sprecher derHamas, Ismail Haniya, im Frühjahr 2002: Im Unterschied zu ihnen, die die Kunst des Sterbens beherrschten, bestehe die Schwäche der Juden gerade darin, dass sie „das Leben mehr als irgendwelche anderen Leute lieben und es vorziehen, nicht zu sterben.“ Vgl. T. Friedman, Suicidal Lies, in: New York Times (NYT), March 31, 2002.
16 Lorenzo Cremonesi, „Dieses passiert jenen, die sich auf die Seite Amerikas stellen.“ Interview mit Mahmud el-Saha, dem Anführer der Hamas-Bewegung, in: Corriere della Serra, 8. Juli 2005; zit. nach: Newsletter der Botschaft des Staates Israel vom 21. Juli 2005.
17 Khaled Abu Toameh, Woman walking with fiance murdered, in: Jerusalem Post, April 12, 2005; Mohammed Daraghmeh, Palestinian Poet Lashes Out at Militants, in: Washingtonpost.com, July 13, 2005.
18 Vgl. Douglas Jehl, Experts Fear Suicide Bomb Is Spreading Into The West, in: NYT, July 13, 2005. Hier wurden allein in den ersten zehn Wochen nach der Ende April 2005 erfolgten Regierungsbildung unter Premier Ibrahim al-Jaafari 1.500 Menschen, zumeist Zivilisten, getötet. Vgl.: A Least 40 Are Killed in Suicide Bombings in Iraq, in: NYT, July 10, 2005.
19 Die politische, ökonomischen und sozialpsychologischen Interessen, die dieser Politik zugrunde liegen, habe ich an anderer Stelle nachgezeichnet. Siehe: „,Stop the terror’ oder ,Stop the wall’?” unter www.matthiaskuentzel.de
20 Leon de Winter, Wacht auf, wir sind im Krieg, in: Cicero 8/2004, S. 48.