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Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
War der 11. September antisemitisch motiviert?
Jüdische Allgemeine, Januar 2003
Welche politische Anschauung trieb Mohammed Atta, den Anführer der Todespiloten vom 11. September, zu seiner Tat?
„Ein ,nationalsozialistisches Weltbild‘ attestierten ihm Teilnehmer der Koran-Runden“, berichtete der Spiegel am 2. September 2002. „,Die Juden‘, das waren für ihn die reichen Strippenzieher der Medien, der Finanzwelt, der Politik, und natürlich steckten auch hinter dem Einsatz der Amerikaner am Golf die Juden, hinter den Kriegen auf dem Balkan, in Tschetschenien, überall. ... ,Das Zentrum des Weltjudentums‘, so sah es Atta, war New York. Atta wünschte sich einen Gottesstaat vom Nil bis zum Euphrat, frei von Juden, und sein Befreiungskrieg musste in New York beginnen.“ (Spiegel 36/2002, S. 117)
Attas obsessiver Judenhass, den seine Anleiter und Finanziers von al-Qaida teilen, wie deren Stellungnahmen zeigen, war offenkundig das Hauptmotiv für die Massaker in Washington und New York. Dies ist wenig überraschend. Denn das Muster des suizidalen Massenmords war schon vor dem 11. September bekannt: Am 1. Juni 2001 riss ein Hamas-Angehöriger 21 Jugendliche vor einer Diskothek bei Tel Aviv mit in den Tod. Am 9. August 2001 sprengte sich ein weiterer Islamist in der überfüllten Pizzeria Sabbaro in Jerusalem in die Luft und tötete 16 Gäste. Schon im September 2001 lag die Mutmaßung, dass zwischen diesen drei Anschlägen ein Zusammenhang besteht, auf der Hand.
Dennoch wird das antisemitische Motiv in den Diskussionen über die Septembermassaker wenig thematisiert. Dies ist umso unverständlicher, als die Geschichte des Islamismus den Zusammenhang von Djihad und Judenhass unzweideutig belegt. Anders, als es viele Darstellungen kolportieren, ist diese politisch-religiöse Bewegung nicht in den Sechziger-, sondern in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Ihr Aufstieg wurde nicht vom Scheitern des Nasserismus, dafür jedoch vom Erfolg des Faschismus inspiriert. Bis 1951 waren sämtliche Mobilisierungskampagnen der Islamisten nicht antikolonial, wohl aber antijüdisch orientiert.
Es war die 1928 in Ägypten gegründete Organisation der „Muslimbrüder“, die den Islamismus als Massenbewegung begründete. Bis heute sind die Muslimbrüder für den Islamismus das, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren: der ideologische Bezugspunkt und der organisatorische Kern, der alle nachfolgenden Tendenzen, einschließlich der al-Qaida, maßgeblich inspirierte und bis heute inspiriert. Zwar waren es die Auswirkungen der britischen Kolonialpolitik, die den Islamismus als Widerstandsbewegung gegen die „kulturelle Moderne“ hervorbrachten und den Ruf nach einer neuen Scharia-Ordnung provozierten. Dennoch wurde der Djihad der Muslimbrüder nicht an erster Stelle gegen die Briten geführt. Er wurde auch nicht gegen die französische Kolonialmacht geführt und ebenfalls nicht gegen die ägyptische Elite, die mit den Briten kooperierte. Die Djihad-Bewegung der Muslimbrüder nahm fast ausschließlich den Zionismus und die Juden in ihr Visier. Nicht als antikoloniale, sondern als antijüdische Bewegung wurden die Muslimbrüder zur Massenorganisation. 1936 zählten sie 800 Mitglieder, 1938 waren es 200.000. Dazwischen lag ihre erste große gegen Juden und Zionisten gerichtete Mobilisierungskampagne.
Auslöser war der 1936 vom Mufti von Jerusalem initiierte Aufstand in Palästina. „Nieder mit den Juden“ und „Juden raus aus Ägypten und Palästina“ lauteten die Parolen der Massendemonstrationen, die die Bruderschaft daraufhin in den ägyptischen Großstädten organisierte. Auf Flugblättern rief sie zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte auf. In ihrer Zeitschrift al-Nadhir wurde eine regelmäßige Kolumne mit der Kopfzeile: „Die Gefährlichkeit der Juden von Ägypten“ etabliert. Darin wurden die Namen und Adressen von jüdischen Geschäftsinhabern und Besitzern angeblich jüdischer Zeitungen aus aller Welt veröffentlicht und alles Böse – vom Kommunismus bis zum Bordell – auf die „jüdische Gefahr“ zurückgeführt. Viele Aktionsmuster und Inhalte waren somit dem Nationalsozialismus entlehnt. Die Muslimbrüder riefen zusätzlich jedoch dazu auf, „sich in allen Teilen Ägyptens für den Djihad zur Verteidigung der Aqsa-Moschee zur Verfügung zu stellen.“ Dieser Djihad-Ruf war in der damaligen muslimischen Welt ungewöhnlich und neu.
Denn erst die Muslimbrüder hatten die Idee des kriegerischen Djihad und die Todessehnsucht als Leitideal des Märtyrers für die Neuzeit entdeckt. 1938 machte Hassan al-Banna, der charismatische Gründer der Muslimbrüder, die Öffentlichkeit in einem Aufsatz unter der Überschrift „Die Todesindustrie“ erstmals mit seinen Djihad-Vorstellungen vertraut – einer Vorstellung, bei der das Wort „Todesindustrie“ nicht den Horror, sondern das Ideal beschreibt. Al-Banna: „Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt.“ Diese Losung stieß bei den „Truppen Gottes“, wie die Muslimbrüder sich nannten, auf begeisterte Resonanz. Wann immer ihre Bataillone in semi-faschistischer Formation durch die Straßen Kairos marschierten, erklang ihr Lied: „Wir haben keine Angst vor dem Tod, sondern wir ersehnen ihn … Wie wundervoll der Tod ist. ... Lasst uns für die Erlösung der Muslime sterben.“ Diese in den Dreißigerjahren erstmals ausformulierte Djihad-Idee war mit dem antisemitischen Impuls von Anfang an verquickt.
Der Antisemitismus der Muslimbrüder speiste und speist sich nicht nur aus europäischen, sondern zugleich aus spezifisch islamischen Einflüssen. Erstens gilt Palästina den Islamisten als muslimisches Einflussgebiet (Dar al-Islam), in welchem Juden kein einziges Dorf, geschweige denn einen Staat beherrschen dürften. Zweitens lassen sich entlang der Kampflinie Jude-versus-Muslim Erinnerungen an die Frühgeschichte des Islam revitalisieren: So versuchen die Islamisten aktuell die Vertreibung und Tötung der Juden in Palästina mit dem Vorbild Muhammads zu legitimieren, der der Legende zufolge zwei jüdische Stämme aus Medina im 7. Jahrhundert vertrieb und sämtliche Mitglieder des dritten Stammes töten oder in die Sklaverei verkaufen ließ. Last but not least verhilft diese Feindzuschreibung dem Diktum des Koran, die Juden seien die schlimmsten Gegner aller Gläubigen, scheinbar zu seinem Recht.
Doch erst nach dem 8. Mai 1945 erreichte die ideologische Annäherung der Muslimbrüder an den Nationalsozialismus ihren Höhepunkt. Im November 1945 kündigte sich die Verschiebung des antisemitischen Zentrums von Deutschland in die arabische Welt bereits an. In diesem Monat verübten die Muslimbrüder in Kairo und Alexandria die größten antijüdischen Pogrome in der Geschichte Ägyptens: Demonstranten fielen aus Anlass des Jahrestages der Balfour-Erklärung in das jüdische Viertel Kairos ein, plünderten dort Häuser und Geschäfte, griffen Nicht-Muslime an, verwüsteten die Synagogen und steckten sie schließlich in Brand. Sechs Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Einige Wochen später gingen die Zeitungen der Islamisten „zum Frontalangriff auf die ägyptischen Juden als Zionisten, Kommunisten, Kapitalisten, Blutsauger, Waffen- und Mädchenhändler oder ganz generell als ,zersetzendes Element‘ aller Staaten und Gesellschaften über“, wie Gudrun Krämer in ihrer Studie Die Juden in Ägypten 1914-1952 schreibt.
1946 sorgten die Muslimbrüder schließlich dafür, dass der als Kriegsverbrecher gesuchte Freund von Heinrich Himmler, Amin el-Husseini, in Ägypten Exil und eine neue politische Wirkungsstätte erhielt. In seiner Funktion als Mufti von Jerusalem und Führer der palästinensischen Nationalbewegung hatte el-Husseini, der seit Anfang der 30er Jahre zu den engsten Verbündeten der Muslimbrüder gehörte, die Shoa mehr als jeder andere arabische Politiker unterstützt und vorangetrieben. Mit der Amnestierung dieser prominenten islamischen Autorität wurde für einen großen Teil der arabischen Welt auch der Nationalsozialismus und dessen Antisemitismus rehabilitiert. Scharenweise strömten nunmehr die in Europa gesuchten Nazis in die arabische Welt. Massenhaft wurden in den folgenden Jahrzehnten die Protokolle der Weisen von Zion von zwei ehemaligen Mitgliedern der Muslimbruderschaft – Gambal Abdel Nasser und Anwar as-Sadat – verbreitet und unterstützt.
Die uneingeschränkte Solidarität der Muslimbrüder mit dem Mufti und ihre antisemitischen Ausschreitungen wenige Monate nach Auschwitz verdeutlichen, dass die Vernichtung der europäischen Juden von ihnen entweder ignoriert oder gerechtfertigt worden ist.
Die Folgen dieser Einstellung sind immens und bestimmen bis heute den arabisch-jüdischen Konflikt. Denn solange der Islamismus die Shoa leugnet, wird er damit fortfahren, die internationale Rückendeckung, die die Gründung Israels 1947 durch die Vereinten Nationen erfuhr, ausschließlich unter Rückgriff auf antisemitische Denkmuster, also verschwörungstheoretisch zu erklären: als ein von Juden gelenkter Angriff der USA und der Sowjetunion gegen das Arabertum. Dementsprechend wurde der Teilungsbeschluss für Palästina, den die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1947 verabschiedete, von den Muslimbrüdern als ein „internationales Komplott“ interpretiert, „ausgeführt von den Amerikanern, den Russen und den Briten unter dem Einfluss des Zionismus.“ Mit dieser Theorie der Weltverschwörung versuchten sie die Juden kurz nach Stilllegung der Gaskammern als weltbeherrschende Macht abzustempeln. Mithin fand die in Deutschland seit dem 8. Mai 1945 unterdrückte Wahnidee in der arabischen Welt, in der die Muslimbrüder inzwischen über eine millionenstarke Anhängerschaft verfügten, ihr seither wirkungsmächtigstes Exil.
Dies zeigt besonders deutlich die 1988 verabschiedete Charta der Muslimbrüder von Palästina, kurz: Hamas. Sie stellt das wichtigste programmatische Dokument des Islamismus in der Gegenwart dar und reicht in ihrer Bedeutung über den Palästina-Konflikt weit hinaus.
Die Hamas begreift sich darin als „universalistische Bewegung“, deren Djihad von den Muslimen in allen Teilen der Welt zu unterstützen sei. Dementsprechend wird als Gegner nicht allein Israel ausgemacht, sondern der „Welt-Zionismus“ ergo: das „Weltjudentum“. Die Hamas, heißt es in der Charta, sei „die Speerspitze und die Avantgarde“ im Kampf gegen den „Welt-Zionismus“.
Und so, als hätten die Autoren dieser Charta beim Abfassen ihres Textes die Seiten der Protokolle der Weisen von Zion offen aufgeschlagen neben sich liegen gehabt, werden dem „Welt-Zionismus“ alle Bösartigkeiten der Weltgeschichte unterstellt: „Die Juden standen hinter der Französischen Revolution und hinter der kommunistischen Revolution“. Sie standen „hinter dem Ersten Weltkrieg, um so das islamische Kaliphat auszuschalten … und standen auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsmaterial zogen.“ Sie veranlassten „die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, ... um die Welt durch ihre Mittelsmänner zu beherrschen. Es gab keinen Krieg an irgendeinem Ort, der nicht ihre Fingerabdrücke trüge.“ In Artikel 32 dieser Charta, wird endlich auch das Original benannt: „Das Programm der Zionisten wurde in den Protokollen der Weisen von Zion ausgebreitet und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was dort gesagt wurde.“
Man möchte über derartigen Irrsinn lächeln, wie einst über das Gebrabbel eines Adolf Hitler gelächelt wurde. Doch eben dieser wahnwitzige Begriff von Juden als dem absoluten Bösen und Weltübel ist es, der der islamistischen Begeisterung über die suizidalen Massenmorde an israelischen oder US-amerikanischen Zivilisten das Motiv verleiht. Mit ihrer massenmörderischen Umsetzung dieser Charta setzen die palästinensischen Muslimbrüder unter dem Beifall der Islamisten aus aller Welt die Politik des Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, weiter fort.
Kann es angesichts dieser Zusammenhänge noch verwundern, dass diejenigen, die Mohammed Atta aus gemeinsamen Koran-Runden kannten, ihm ein „nationalsozialistischen Weltbild“ attestierten? Ist es angesichts der Tatsache, das einer der Gründer der Hamas, der Palästinenser Abdullah Azzam, zugleich wichtigster Lehrer und Mentor Osama bin Ladens gewesen war, erstaunlich, dass dieser „den Juden“ den Vorwurf macht, „Amerika und den Westen als Geiseln genommen“ zu haben? Warum will man aber ausgerechnet in Deutschland von dieser antisemitischen Dimension des 11. September wenig sehen und gar nichts wissen?
Schon die achtlos präsentierte Spiegel-Enthüllung über Attas Weltanschauung blieb hierzulande ohne Resonanz. Von den wichtigsten programmatischen Texten des islamistischen Antisemitismus – der „Charta“ der Hamas von 1988 und dem 1950 veröffentlichten Aufsatz „Unser Kampf mit den Juden“ von Sayyid Qutb – liegen bis heute nicht einmal deutsche Übersetzungen vor. Die deutsche Islamwissenschaft scheint hieran kaum etwas ändern zu wollen: Weder in ihrer Interpretationen der „Charta“ noch in ihren sonstigen Darstellungen des Islamismus taucht der Begriff des Antisemitimus auch nur auf.
Dies und die Tatsache, dass bei der unendlichen journalistischen Motivforschung für die suizidalen Massenmorde gegen israelische und US-amerikanische Zivilisten das Programm der Hamas nicht einmal zur Kenntnis genommen wurde – das Selbstverständlichste also nicht geschah! – verleiht der 1969 formulierten Warnung Léon Poliakovs neue Aktualität: „Wer den Antisemitismus in seiner primitiven und elementaren Form nicht anprangert, und zwar gerade deshalb nicht, weil er primitiv und elementar ist, der muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht dadurch den Antisemiten in aller Welt ein Zeichen heimlichen Einverständnisses gibt.“
Die hier angeschnittene Thematik behandelt ausführlich das Buch „Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg“ von Matthias Küntzel, das in diesen Tagen im Freiburger ca ira-Verlag erscheint. Es hat 180 Seiten, kostet 13 € und kann im Internet unter www.isf-freiburg.org bestellt werden.
Quelle: Jüdische Allgemeine, 2. Januar 2003, S. 3