Neuestes Buch:
Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Mit Radioprogrammen auf Arabisch und Persisch exportierten die Nazis ihren aggressiven Judenhass – mit Folgen bis heute. Doch langsam beginnt die Aufarbeitung
Welt am Sonntag, 11. Oktober 2020
Seit Jahrzehnten haben Herrscher und Medien im arabischen Raum den Judenhass geschürt, den Holocaust geleugnet und Israels Beseitigung verlangt. Im September 2020 aber gelang mit dem umfassenden Friedensschluss zwischen Israel, den Vereinten Arabischen Emiraten und Bahrain ein historischer Durchbruch. Erstmals bekannten sich arabische Staaten selbstbewusst und stolz zum Bündnis mit Israel. Erleben wir die Anfänge eines neuen Nahen Osten?
Dafür spricht, dass es diesmal, durchaus überraschend, weder Proteste arabischer Regierungen noch Demonstrationen der “arabischen Straße” gab. Zudem ist in den arabischen Medien ein neues Interesse an der Geschichte des Nahen Ostens erwacht: Was ist hier eigentlich schiefgelaufen? Warum hatte der Antisemitismus diese Region jahrzehntelang im Griff? Zu den Antworten auf diese Frage gehört ein wenig bekanntes Detail aus der Zeit des Nationalsozialismus: die arabisch-sprachige Radiopropaganda, mit der die Nazis Araber im Besonderen und Muslime ganz allgemein gegen Juden aufhetzten.
Hitlers Ziel
Am 28. November 1941 einigten sich Adolf Hitler und Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, die antisemitische Verfolgung auch auf die etwa 700.000 Juden in Nordafrika und im Nahen Osten auszudehnen. Sobald die deutschen Armeen den Südausgang Kaukasiens erreicht hätten, erklärte Hitler seinem Gegenüber, werde das deutsche Ziel “die Vernichtung des im arabischen Raum unter der Protektion der britischen Macht lebenden Judentums” sein.
Beinahe wäre es so weit gekommen: Als Rommels Afrikakorps im Sommer 1942 scheinbar unaufhaltsam in Richtung Kairo marschierte, wurde ihm ein Einsatzkommando von sieben SS-Führern und 17 Unterführern zugeordnet. Es sollte für die Ermordung der Juden sorgen; eine ausreichend große Menge einheimischer Araber als Helfershelfer glaubte man voraussetzen zu können. Wie aber wurde der Judenhass unter den Arabern, in ihrer großen Mehrzahl Analphabeten, geschürt?
Als wichtigstes Propagandainstrument diente ein Kurzwellen-Sender in Zeesen, einem kleinen Ort 40 Kilometer südlich von Berlin, der volle sechs Jahre – vom 25. April 1939 bis zum 26. April 1945 – den goebbelsschen Antisemitismus auf Arabisch und Persisch in die muslimische Welt übertrug. Vor wenigen Jahren entdeckte der amerikanische Historiker Jeffrey Herf die transkribierten Sendemanuskripte und machte sie 2009 mit seiner Studie “Nazi-Propaganda for the Arab World” bekannt. Diese allabendliche Dauerbeschallung erweist sich im Rückblick als Zäsur, die die Geschichte des Nahen Ostens in ein Vorher und ein Nachher teilt: Sie radikalisierte das in den Frühschriften des Islam angelegte Ressentiment gegen Juden und wirkte noch in der Nachkriegszeit weiter.
Damals war Radiohören in der arabischen Welt eine öffentliche Angelegenheit. Die Männer lauschten den Empfängern an Basar-Ständen, auf Marktplätzen und in Kaffeehäusern. Was man hörte, wurde zum dominierenden Gesprächsthema, was die Wirkung vervielfachte. “Tausende Menschen” seien gekommen, um bei der Anschaffung eines Radios in einem iranischen Kaffeehaus dabei zu sein, berichtet ein iranischer Großayatollah in seinen Memoiren.
Die Sendungen wurden im Gebäude Kaiserdamm 77 in Berlin aufgenommen und anschließend über eine Art Telefonleitung nach Zeesen geschickt, um von dort in den muslimischen Raum ausgestrahlt zu werden. Schon 1938 hatte der amerikanische Rundfunkexperte César Searchinger den “riesenhaften” Kurzwellensenderkomplex im kleinen Ort Zeesen als die “größte und mächtigste Propagandamaschine der Welt” bezeichnet und seine “äußerst schlaue Technik der Meinungsbeeinflussung” als die “fürchterlichste Institution zur Ausbreitung einer politischen Doktrin, welche die Welt jemals gesehen hat”. Das war gewiss übertrieben und doch nicht ganz falsch.
Nazis im Islamgewand
So gehörten zur “schlauen Technik der Meinungsbeeinflussung” sogenannte Geheimsender, die scheinbar unabhängig von den offiziellen Zeesen-Sendungen ausgestrahlt wurden. Einer dieser Geheimsender nannte sich “Die Stimme des freien Arabertums” (“Saut al-uruba al-hurra”) und gab sich den Anschein, von einer in Ägypten ansässigen Freiheitsbewegung betrieben zu werden. Dass er von Berlin aus sendete, wurde vertuscht.
Diese “Stimme des freien Arabertums” konnte jede noch so absurde Falschmeldung verbreiten, solange deren Redner nur darauf achteten, ägyptisches Lokalkolorit einzubauen. Anschließend griff die deutsche Seite die Desinformation des Geheimsenders auf und verbreitete sie als vermeintlich authentische Meldung weiter.
Im Zweiten Weltkrieg war es auch bei den übrigen Mächten üblich, Geheimsender zu betreiben; jedoch zeichneten sich die Sendungen aus Zeesen durch Besonderheiten aus. Erstens sorgte die Grundüberholung der Sendeanlagen in Zeesen aus Anlass der Berliner Olympischen Spiele 1936 für besonders guten Empfang auch in weit entfernten Regionen.
Zweitens gelang es den Nazis, Junis Bahri, den ehemaligen Sprecher des irakischen Rundfunks, als Ansager zu verpflichten. Mit seiner besonderen Fähigkeit, sein Stimmvolumen anschwellen zu lassen und seinen aggressiven Reden, die zuweilen ins Brüllen und Drohen übergingen, wurde seine Präsenz ein Markenzeichen des Senders.
Drittens fielen die Sendungen aus Zeesen durch ihren derben, volkstümlichen Antisemitismus auf. So wurden die “United Nations”, seit 1942 die Selbstbezeichnung der Anti-Hitler-Koalition, bei Radio Zeesen als die “Vereinten Jüdischen Nationen” verspottet und Emir Abdullah von Transjordanien aufgrund seiner eher moderaten Haltung gegenüber Juden als “Rabbi Abdullah” verlacht. Ein in Palästina am 13. Oktober 1939 angefertigter Bericht des britischen War Office über die Wirkung der deutschen Radiopropaganda trifft dessen Machart recht genau:
“Man kann ganz allgemein sagen, dass die mittlere und untere Klasse den arabischen Sendungen aus Berlin mit großem Vergnügen lauscht. Sie mögen das feuerige ,saftige’ Zeug, was da herüberkommt. [...] Was der durchschnittliche palästinensische Araber in sich aufnimmt, ist das Anti-Juden-Material. Das will er hören, daran will er glauben – und er tut beides. In dieser Hinsicht ist die deutsche Propaganda definitiv erfolgreich.”
Das vierte Kennzeichen dieses Senders war sein islamisches Gepräge. Um Araber erfolgreich aufzuhetzen, tarnten sich die Nazis als Muslime: Die “Radiosendungen (strotzten) nur so von religiösen Gesängen, Passagen aus dem Koran und schmalziger Sprache”, hieß es 1942 im Bericht eines US-Geheimdienstes. Besonders (miss)brauchten die Nazis den Islam als Türöffner, um ihren Antisemitismus zu verbreiten.
Immer wieder zitierten sie nur diejenigen Verse aus dem Koran, die Juden als Feinde des Islam präsentieren. Immer wieder wurden Bögen von Mohammeds Zeit ins 20. Jahrhunderts geschlagen, um die angeblich seit dem 7. Jahrhundert offensichtliche Todfeindschaft der Juden gegenüber Muslimen zu illustrieren. “Die deutsche Propaganda verknüpfte den Islam mit antijüdischer Hetze in einem Ausmaß, wie sie in der neuzeitlichen muslimischen Welt bis dato nicht vorgekommen war”, konstatiert der Historiker David Motadel.
Als Erwin Rommel mit seinen Panzern auf Ägypten vorrückte, gaben die Berliner Radiomacher jede Zurückhaltung auf. Am 7. Juli 1942 rief der Geheimsender “Stimme des freien Arabertums” zum Massenmord auf:
“Die Juden haben vor, Eure Frauen zu schänden, Eure Kinder umzubringen und Euch zu vernichten. Nach der muslimischen Religion ist die Verteidigung Eures Lebens eine Pflicht, die nur durch die Vernichtung der Juden erfüllt werden kann. (...) Tötet die Juden, steckt ihren Besitz in Brand, zerstört ihre Geschäfte, vernichtet diese niederträchtigen Helfer des britischen Imperialismus. Eure einzige Hoffnung auf Rettung ist die Vernichtung der Juden, ehe sie Euch vernichten.”
War der Nazi-Sender erfolgreich?
Der antisemitische Antizionismus, den der deutsche Sender alltäglich verbreitete, fand in der arabischen Welt Zuspruch; weitaus mehr Zuspruch als Nazi-Deutschland selbst. Bei diesem Thema konnte sich Berlin einerseits den frühislamischen Antijudaismus zunutze machen und andererseits den lokalen Konflikt zwischen der zionistischen Bewegung und den Arabern in Palästina ausschlachten. Immer wieder stellte Radio Zeesen, das Millionen Menschen erreichte, die vermeintlich identischen Interessen von Zionisten und Alliierten heraus.
Diese versuchten, der Zeesen-Propaganda entgegenzuwirken. Großbritannien setzte Störsender ein und begann seinerseits, den Islam für Propagandazwecke einzuspannen. Vor Ort versuchte man, das Public Listening des Senders zu unterbinden und das Hören in Privathäusern zu beschränken. Und doch blieben die BBC und die anderen alliierten Sender beim wichtigsten Alleinstellungsmerkmal von Radio Zeesen, seinem Antisemitismus, sprachlos.
Als Verteidiger und oder gar “Komplize” der Juden wollte keiner von ihnen gelten, könnte dies doch, so ihre Befürchtung, wie eine Bestätigung der Nazi-Propaganda erscheinen. London und Washington beschlossen deshalb, den Judenhass des deutschen Senders zu ignorieren. Auf diesem Gebiet überließen sie Joseph Goebbels das Feld.
Inwieweit die Radiopropaganda individuelle Einstellungen veränderte, lässt sich rückwirkend nicht quantifizieren. Dass sie das Bild “des” Juden in der arabischen Welt veränderte, ist hingegen gewiss. Sie förderte eine ausschließlich antijüdische Lesart des Koran, popularisierte die europäischen Weltverschwörungsmythen und prägte eine genozidale Rhetorik gegenüber dem Zionismus und ab 1948 gegen Israel. Hingegen herrschte in muslimisch geprägten Regionen, die von den Hasswellen des Berliner Senders unberührt blieben, 1945 deutlich weniger Wut auf Juden. Dies gilt zum Beispiel für Indonesien oder Bosnien-Herzegowina, wo das Arabische nicht gängig war.
Von der Nazipropaganda zum Nahostkrieg von 1948
Je deutlicher sich ab Mitte 1943 die Niederlage Deutschlands abzeichnete, desto schriller wurde die Agitation. So wie Goebbels mit seiner “Wollt ihr den totalen Krieg”-Rede vom 18. Februar 1943 das Angstszenario einer Auslöschung der Deutschen im Falle der Niederlage beschwor, so begann nun auch die arabischsprachige Propaganda Schreckensszenarien auszumalen, die ein Sieg der Alliierten angeblich zur Folge hätte.
Die Juden würden keine Ruhe geben, hieß es zum Beispiel am 8. September 1943 in Radio Zeesen, bevor nicht “jedes Stück Land zwischen dem Tigris und dem Nil jüdisch” sei. Sollten sie siegen, werde “kein einziger arabischer Moslem oder Christ in der arabischen Welt bleiben. Araber! Stellt euch vor, Ägypten, Irak und all die arabischen Länder würden jüdisch, ohne Christentum oder Islam!”
Derart paranoide Phantasien überdauerten den Krieg. Die Einschätzung des Londoner Foreign Office von 1946, dass der “arabische Hass auf Juden noch größer ist als der der Nazis”, war wohl übertrieben, enthielt aber einen wahren Kern. Dieser Hass beeinflusste nicht zuletzt die Führungspersönlichkeiten der arabischen Welt. Auch deshalb reagierten sie entsetzt auf den Beschluss der UN-Vollversammlung von November 1947, das Territorium Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen.
Zu diesem Zeitpunkt hielt besonders die Muslimbruderschaft daran fest, Horrorbilder über den “jüdischen Todfeind” zu verbreiten. Nazi-Agenten hatte diese Bruderschaft bereits in den 1930er-Jahren subventioniert und auch ideologisch unterstützt. 1945 verfügte diese Organisation allein in Ägypten über 1.500 Untergruppen und 500.000 Mitglieder und avancierte damit zur damals größten antisemitischen Bewegung der Welt.
Unter ihrem Einfluss formierte sich eine Massenstimmung, die auf einen Einmarsch regulärer arabischer Truppen in das gerade gegründete Israel bestand. Die Muslimbruderschaft schuf “eine Atmosphäre, in der Krieg das einzige logische und natürliche Verfahren zu sein schien”, betont der Nahosthistoriker Thomas Mayer. In der Nacht zum 15. Mai 1948 war es soweit: Von Norden rückten syrische und libanesische Truppen, von Osten jordanische Streitkräfte und von Süden ägyptische Einheiten auf das Gebiet des Stunden zuvor gegründeten Staates Israel vor.
Diese verhängnisvolle Invasion der Araber hat den Nahost-Konflikt geprägt, wie wir ihn heute kennen. Sie führte zur Flucht und zur Vertreibung von Hunderttausenden Arabern aus Palästina, zerstörte aber nicht den Teilstaat der Juden, sondern beseitigte das arabische Palästina, das bis 1967 politisch keine Rolle mehr spielte.
Dieser Krieg war nicht zuletzt eine Spätfolge der antisemitischen Nazipropaganda, deren Nachhall die Nachkriegsjahre prägte. Dies bestätigte Ali Mahir, der ehemalige Premierminister Ägyptens: “Der arabische Widerstand gegen den Zionismus”, betonte er 1946, “war das Produkt sowohl der Nazi-Propaganda im Nahen Osten als auch der verwirrenden Politik Großbritanniens.” Inmitten der judenfeindlich aufgehetzten Stimmung sah sich niemand in der Lage, der Agitation der Muslimbruderschaft entgegenzutreten.
Bis heute treibt die Saat des Hasses, die Radio Zeesen in der arabischen Welt ausstreute, hässliche Blüten. Mehr noch: Über die islamistischen Fernsehsender von Hisbollah und Hamas kehrt der Antisemitismus im Goebbels-Stil, den Deutschland einst in diesen Teil der Welt schickte, nach Europa zurück.
Jetzt aber bietet der Friedensschluss zwischen Israel und den beiden Golfstaaten die Chance, diesen Judenhass schrittweise zu überwinden und die Israel-Hasser in Ankara und Teheran zu isolieren. Inzwischen berichtet selbst eine Zeitung wie “Al-Sharq Al-Awsat”, die dem saudischen Herrscherhaus nahesteht, dass der Mufti von Jerusalem vor knapp 80 Jahren mit seinem Versuch, “die Ideologie der Muslimbruderschaft mit der der Nazis zu kombinieren … der palästinensischen Sache mehr als irgendjemand sonst geschadet hat”.
Dies zeigt: Die arabische Aufarbeitung der Nahostgeschichte und ihrer Nazi-Anteile hat begonnen. Ausgerechnet auf diesem Gebiet jedoch hinkt Deutschland hinterher. Es ist überfällig, dass Berlin seine Haltung zur arabischen Welt neu justiert und die Zurückdrängung des dort grassierenden Judenhasses als Verpflichtung und als Teil der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit begreift.
Die Originalveröffentlichung der Welt am Sonntag findet sich hier.
Bild: Vorder- und Rückseite einer arabischen Ausgabe von Adolf Hitlers “Mein Kampf”, ca. 1955. Lizenz: Public Domain