Neuestes Buch:
Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Ein Interview mit der Holocaust-Überlebenden Fanny Englard über die Shoa und die iranische Gefahr
Jungle World, 5. April 2012
Die Chancen, den Iran durch Verhandlungen zur Änderung seiner Atompolitik zu bewegen, sind gering. Die Wahrscheinlichkeit eines israelischen Militärschlags hingegen ist groß. Was heißt dies für Deutschland, das mit Teheran starke Wirtschaftskontakte, mit Israel aber eine Sonderbeziehung unterhält?
„Die Sicherheit Israels (ist) Teil der Staatsräson meines Landes“, hatte die Bundeskanzlerin vor dem israelischen Parlament unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Irans Atomprogramm im März 2008 erklärt. „Deutschland und Israel sind und bleiben, und zwar für immer, auf besondere Weise durch die Erinnerung an die Schoah verbunden.“ Was aber hat die Erinnerung an die Schoah mit der Irankrise zu tun?
Ich sprach darüber mit der 1925 in Köln geborenen Fanny Englard, einer langjährigen Freundin, die als Überlebende des Holocaust zum Vorstand der israelischen Organisation Perpetuation of Memory of the Holocaust gehört.
Fanny Englard wurde am 6. Dezember 1941 mit sechszehn Jahren von Hamburg nach Riga deportiert und am 8. März 1945 von der Roten Armee befreit. Ihr Vater starb im Warschauer Ghetto, ihre Mutter und ihr 10-jähriger Bruder Arnold wurden gemeinsam mit der Großmutter sowie Tanten und Cousinen in Belzec vergast. Ihre Brüder Leo und Isi wurden im Alter von 15 und 13 Jahren bei Minsk erschossen.
„Ich kam 1947 nach Israel und heiratete, um als Ersatz für die ermordete Familie, die dem Judenhass zum Opfer gefallen war, eine neue Familie zu gründen“, erzählte sie mir in ihrer Wohnung in der Nähe von Tel Aviv. „Wir haben nicht überlebt und eine neue Familie in die Welt gesetzt, um sie heute erneut dem Judenhass als Opfer darzubieten. Uns zwingt der Judenhass zum Lebenskampf für die sichere Zukunft der neuen Familie.“
2009 erschien ihr Buch Vom Waisenhaus zum Jungfernhof. Deportiert von Hamburg nach Riga, herausgegeben von Gine Elsner.
In Deutschland gilt der von Teilen der israelischen Regierung erwogene Angriff auf iranische Atomanlagen als Krieg…
Sag nicht Krieg. Sag Lebenskampf. Es ist ein Unterschied, ob man einen Krieg führt oder ob man um sein Leben kämpft. Wir haben es mit dem Judenhass von Hitlers islamistischen Erben zu tun. Wenn Israel gegen die angeht, die es auslöschen wollen, ist das nicht Krieg, um andere zu töten, sondern ein Kampf um Leben.
Gleichwohl stieß in Europa der israelische Militäreinsatz von 2009, der den Raketenbeschuss aus Gaza beenden wollte, auf Kritik.
Wer unseren Überlebenskampf kritisiert, greift uns an. Denn, wenn wir angegriffen werden und in Notwehr handeln, sind wir doch keine Kriegsverbrecher. Wir haben „Nie wieder!“ geschworen und Israel ist für unseren Schwur „Nie wieder!“ verantwortlich: Es ist geprägt durch unseren Schwur.
In Deutschland bedeutet „Nie wieder!“ etwas anders.
Ich weiß. Für euch heißt es: Nie wieder Krieg. Für uns heißt es: Niemals wieder werden wir erneut das wehrlose Opfer des Judenhasses sein. Das müssen auch die Deutschen akzeptieren.
Warum?
Warum? Weil sie diejenigen waren, die mich zum Opfer gemacht hatten. Die besondere historische Verantwortung verpflichtet die Deutschen, sich für die Verteidigung Israel, für das „Nie Wieder!“, einzusetzen.
Was heißt „einsetzen“ in diesem Zusammenhang?
Ich will es so formulieren: Für uns wird keiner in den Kampf ziehen. Das können wir allein. Wichtig aber ist, dass diejenigen, die mich vernichten wollen, wissen, dass Deutschland sich für unsere Existenz verantwortlich fühlt.
Du hattest in einem Brief an Harald Kindermann, den früheren deutschen Botschafter in Israel, stärkere Reaktionen auf Ahmadinejad gefordert und geschrieben: „Deutschland ist uns Überlebenden eine klare Antwort schuldig, die bestätigt, dass Deutschland sich seiner Verantwortung für die Vergangenheit bewusst ist.“
Das ist es, was ich verlange. Die immerwährende Verantwortung für die deutsche Geschichte verpflichtet die Deutschen, für die Zukunft des „Gedenke!“ einzutreten. Wer sich dessen nicht bewusst ist, den klage ich als Überlebende an.
Sind Österreicher oder Litauer, deren Vorfahren bei den Massakern mitgemacht haben, nicht auch in dieser Pflicht?
Nein. Diese Verantwortung haben nur die Deutschen. Manchmal rede ich mit Mitarbeitern von „Aktion Sühnezeichen“. Die wollen die Schuld abbüßen und „sühnen“. Aber man kann doch für das, was passiert ist, nicht sühnen! Es ist passiert. Man kann auch nichts wieder gutmachen. Aber es gibt eine Verpflichtung, die Verantwortung für die Zukunft des „Nie wieder!“ zu übernehmen. Das „Nie wieder!“ ist die Sühne.
Junge Leute in Deutschland fragen: Warum soll ich diese Verantwortung tragen? Das ist doch alles siebzig Jahre her!
Darauf antworte ich: Wer sich bekennt, Deutscher zu sein, ist nicht schuldig, aber verantwortlich. In dem Moment, wo du sagst, du bist Deutscher, da frage ich gar nicht weiter. In diesem Moment hast du eine Verantwortung für die Vergangenheit.
Das sagst du als Holocaust-Überlebende.
Ja.
Und wenn es in Zukunft keine Holocaust-Überlebenden mehr gibt?
Da arbeite ich jetzt doch dran, dass diese Botschaft von Generation zu Generation weitergegeben wird bis in die Ewigkeit. Du schreibst es doch auf!
_„Kann das nicht irgendwann aufhören?“, könnte man jetzt fragen. „Wir haben schon so lange die Verantwortung getragen…“._
Hör mal: Es geht nicht um eine Verantwortung, die gilt, bis das Kind groß ist. Die Verpflichtung „Nie Wieder!“ gilt für die Ewigkeit.
Nun gab es auch andere Massaker…
Die Schoah darf man nicht auf andere Ereignisse übertragen. Sie duldet keinen Vergleich.
Vergleichen ist nicht gleichsetzen.
Sobald du die Schoah mit einem anderen Ereignis vergleichst, banalisierst du sie. Solche Vergleiche haben keine Grundlage. Die Schoah ist mit nichts zu vergleichen. Ich betrachte sie als die Fortsetzung des jüdischen Schicksals. In jeder Generation wurden Juden verfolgt. Die Schoah setzt die Linie dieser Unterdrückung – Flucht aus Ägypten, Inquisition, Pogrome – fort. Wenn ich die Schoah für Vergleiche missbrauche, trenne ich sie vom Schicksal des jüdischen Volkes ab.
Also kann ich feststellen: Im Vergleich zur Schoah…
Nein! Das „Gedenke!“ duldet keinen Vergleich. Der letzte Schrei in den Gaskammern … die Schoah war das Schicksal des jüdischen Volkes. Es gab andere Nazi-Opfer, zum Beispiel Zigeuner oder politische Gefangene. Wir sind alle auf demselben Weg in den Tod gegangen – aber nicht aus demselben Grund. Jeder aus einem anderen Grund. Deshalb muss man das auseinanderhalten._
Ich kann das Schicksal der Roma und Sinti mit dem der Juden vergleichen und feststellen…
Nein, nein, nein. Ich bin als Jude vernichtet worden. Bei uns bedeutet koscher: Milch und Fleisch sind auseinander zu halten. Genauso müssen auch die Tragödien der Opfer in der Nazizeit auseinander gehalten werden.
Aber du bist der Meinung, dass man auch der getöteten Roma und Sinti gedenken sollte.
Ja sicher! Aber nicht als Schoah-Opfer, sondern als Nazi-Opfer. Das darf nicht gleichgestellt werden. Das ist, worauf ich bestehe.
Hoffst du denn bei möglichen Militäreinsätzen gegen Iran auf Solidarität von Deutschland ?
Nein. Man sollte in Deutschland aber verstehen, dass Israel vom „Gedenke!“ geprägt ist. Die Welt versteht das nicht. Juden mussten immer um ihr Leben kämpfen. Das macht uns anders als andere Völker. Wir haben aus der Schoah gelernt. Das Recht zu leben lassen wir uns nicht noch einmal nehmen. Früher waren wir Exiljuden. Heute sind wir freie Juden. Wenn wir geschlagen werden, schlagen wir zurück. Deshalb reagieren wir immer wieder stark, wenn wir angegriffen werden. Keiner wird es schaffen, Israel zu überwältigen, weil sich das „Gedenke!“ nicht überwältigen lässt.
Ist das eine Hoffnung oder eine Gewissheit?
Eine Gewissheit. Die Erinnerung an die Schoah gibt uns die seelische Kraft, nicht aufzugeben. Immer wenn wir angegriffen werden, kommen Freiwillige vom Ausland, um für Israels Existenz – Sein oder Nichtsein – zu kämpfen. Ich muss stark sein gegen den, der mich vernichten will. Wer für sein Überleben kämpft, ist stärker als der, der vernichten will. Wenn es um die nackte Existenz geht, gelten keine Gesetze.
Was erwartest du von Deutschland?
Deutschland darf dem fanatischen Islamismus keine freie Bahn lassen. Diese Nazi-Islamisten müssen wissen, dass sie gegen eine dicke Mauer rennen. Es geht nicht um die Verantwortung für die Vergangenheit, sondern um die Verantwortung für die Zukunft. Das ist das, worum ich mich heute bemühe, dass Deutschland sich auch beim Islamismus mit klarer Stimme zu dem „Gedenke!“ bekennt.
Die Neonazis sind auch eine Gefahr. Aber heute geht es hauptsächlich um Hitlers islamistische Erben. Wehe, wenn sich Deutschland, Großbritannien oder Frankreich dem Hass der Islamisten beugen. Man darf ihnen gegenüber keine Angst zeigen, weil diese, so wie alle Nazis, Feiglinge sind. Sie werden sich nicht offen gegen den stellen, der stärker ist als sie. Auch deshalb muss Israel immer wieder Stärke beweisen – das ist die Waffe gegen Islamisten.
Meinst du, die Nazis waren Feiglinge?
Ja. Gegenüber Alten, Kranken, Schwachen – da waren sie stark. Und das sehe ich auch heute wieder bei den fanatischen antisemitischen Islamisten: Sie sind stark gegen den, der Angst beweist. Man darf sich nicht beugen. Ich befürchte, dass man sich auch in Deutschland vor der Gewalt der Islamisten beugt. Das darf nicht sein.
Was schlägst du vor?
Stark zu sein. Frieden wird es vorerst nicht geben. Denn wo Hass gesät wird, kann man keinen Frieden ernten. Und das ist hier der Fall. Ich kann auf keine Hilfe von außen hoffen, auch nicht von Deutschland, sondern nur auf unser Militär.
Früher war ich naiv. Im Winter 1944 saß ich im Arbeitslager Sophienwalde und dachte: Wo ist die Stimme der Welt? Die wissen sicher nicht, wo wir sind. Doch die Welt wusste von Auschwitz und allem. Seitdem weiß ich: Wenn ich mich auf die Welt verlasse, bin ich verlasse. Unser Gewissen ist rein. Wir sind der Welt nichts schuldig. Wenn es um unsere Sicherheit geht, können nur wir wissen, was für uns richtig ist. Niemand kann in unserem Namen entscheiden. Alles, was ich von euch erwarte, ist, dass ihr für das, was wir tun müssen, Verständnis habt.