Selbstmord „für ein höheres ideelles Gut“?

Zur „Paradise Now“-Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung

Von Matthias Küntzel

Oktober 2005

In allen Kinos, die „Paradise Now“ zeigen, gibt es sie kostenlos: Die 24-seitige Broschüre der Bundeszentrale für Politische Bildung über jenes Selbstmörderdrama, das mit dem Prädikat besonders wertvoll für Jugendliche ab 14 Jahre empfohlen wird. Dieses Filmheft ist zum Einsatz im Unterricht gedacht, und in der Tat bietet etwa das Hamburger Abaton-Kino Schulvorführungen bereits an. „Es war uns wichtig, dass der Film nicht unkommentiert rezipiert wird“, erklärte der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, im Gespräch mit der taz. „Wenn Lehrer den Film kritisch diskutierten, könne dies verhindern, dass Schüler türkischer oder arabischer Herkunft den Film mit naivem Blick schauen. Ihrem möglichen Bedürfnis, sich mit den Hauptfiguren zu identifizieren, werde so die Grundlage entzogen.“1

Tatsächlich? Einmal abgesehen von der Frage, warum die Bundeszentrale einen Film für den Unterrichtseinsatz empfiehlt, der allen Betrachtern die Identifizierung mit palästinensischen Massenmördern nahe legt: Wie kommt Thomas Krüger auf die Idee, seine Broschüre entzöge der Identifikation mit palästinensischen Selbstmordattentätern den Boden? Das Gegenteil ist der Fall. Mit diesem Filmheft betätigt sich Krügers öffentliche Einrichtung als eine Bundeszentrale für Nahost-Desinformation und Terror-Akzeptanz. Während man der filmischen Darstellung noch das verharmlosende Label vom „Kunstwerk“ anheften könnte, fällt diese Broschüre in eine andere Kategorie: Hier handelt es sich um eine von Staats wegen gewollte politisch-pädagogische Intervention. Diese Materialien stellen die Empathie mit antijüdischen Massenmördern nicht infrage, sondern erwarten sie. Hier wird die Geschichte des Nahostkonflikts nicht geradegerückt, sondern für eine unkritische Rezeption von „Paradise Now“ verzerrt. Dieses Filmheft ist politisch und moralisch unakzeptabel. Es gehört so schnell wie möglich eingestampft.

Erstens: Im Film sind alle Israelis böswillige Täter und alle Palästinenser gutwillige Opfer. Die in Szene gesetzte Terroristen-Propaganda bleibt unwidersprochen und wird in dieses dichotome Muster integriert. So legitimiert der designierte Selbstmordattentäter Khaled sein Vorhaben mit dem Argument, dass Israel „keine Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren (will).“ Um dieses Ziel zu erreichen, hätten die Palästinenser „jedes politische Mittel ausgeschöpft.“ Weil sie erfolglos geblieben seien, gebe es jetzt zum Selbstmordattentat keine Alternative mehr.

Die von Thomas Krüger behauptete „kritische Rezeption“ des Films hätte dieser Darstellung widersprechen müssen. Von jüdischer Seite wurde die Zwei-Staatenlösung nicht nur in den Jahren 1937 und 1947 unterstützt. Man war dieser Lösung auch im Jahr 2000, als in Camp David über den Nahostplan von Ministerpräsident Barak verhandelt wurde, näher gekommen als je zuvor. Jassir Arafat aber verließ den Verhandlungstisch und gab unmittelbar darauf für die zweiten Intifada grünes Licht.

Anstatt die Fehler der Filmdarstellung zu korrigieren, setzt die Unterrichtsvorlage der Bundeszentrale diese Geschichtsklitterung weiter fort. So wird „Camp David“ in der hier veröffentlichten „Zeittafel des israelisch-palästinensischen Konflikts“ nicht einmal erwähnt. Als hätte es diese Friedensbemühungen niemals gegeben, zählt die Zeittafel lediglich die folgende Ereignisse auf:

„15.1.1997: Hebron-Abkommen.“

„24.5.2000: „Rückzug Israels aus dem Libanon“

„28. 9. 2000: Der Besuch Ariel Scharons auf dem Jerusalemer Tempelberg führt zum Beginn der zweiten Intifada“2

Hier wird der Eindruck erweckt, als habe nicht ein Arafat mit seinem Gesprächsabbruch, sondern ein Oppositionspolitiker aus Israel die nun folgende Serie der Selbstmordattentate in Gang gesetzt. Diese „Zeittafel“ ist auch in anderen Eintragungen manipulativ. So erfahren die Schüler über das Schlüsseljahr 1967: „5.-10.6.1967: Sechs-Tage-Krieg gegen Ägypten, Syrien und Jordanien.“ War etwa die Besetzung des Gaza-Streifens und der Westbank die Folge einer von Israel ausgelösten Aggression? Man braucht kein Freund von Israel zu sein, um eine derartige Geschichtsverzerrungen für Unterrichtszwecke zurückzuweisen.

Anstatt Schüler zur kritischen Distanz gegenüber „Paradise Now“ anzuhalten, setzt die Bundeszentrale den antizionistischen Furor dieses Filmes selbst noch in ihrem für Unterrichtszwecke konzipierten „Arbeitsblatt“ weiter fort. In dieser Vorlage für die Schüler wird die Politik des Dialogs und der Verhandlung mit Israel nicht einmal als Option erwähnt. Stattdessen werden in Aufgabe 1 die folgenden drei Aussagen zur Diskussion gestellt: „Wer den Tod fürchtet, ist schon tot.“, „Ohne Kampf keine Freiheit“, „Widerstand kann vielerlei Formen haben.“ Die Schüler sollen in Kleingruppen Argumente sammeln, die diese Aussagen „stärken bzw. entkräften“ und diese Argumente mit Beispielen belegen. Widerstand gegen Israel, Kampf gegen Israel, Selbsttötung gegen Israel – ein andere Form der Konfliktbewältigung taucht, wie schon im Film, so auch in dieser Anleitung für den Unterricht, nicht auf.

Zweitens verstärkt „Paradise Now“ die antisemitische Wahrnehmung des Nahostkonflikts. So wird in einer Nebenszene jüdischen Siedlern vorgeworfen, das Wasser der Palästinenser mit einem Gift zu verseuchen, dass das Sperma der Palästinenser abtöten soll. Mit diesem Vorwurf wird auf das antisemitische Stereotyp von Juden als den „Brunnenvergiftern“ zurückgegriffen, das in Europa seit Beginn der Pest-Epidemien verbreitet worden ist. Zugleich transportiert dieser Film einen antizionistischen Antisemitismus, wie er sich in Form der Dämonisierung und der Delegitimierung Israels offenbart.

So steckte im Begriff des „Kollaborateurs“, der eine zentrale Rolle spielt, ein antisemitischer Code. Einerseits ist dieses Wort im deutschen Sprachgebrauch mit einer Bezugnahme auf Nazideutschland konnotiert; unterschwellig legt es somit eine Gleichsetzung von Israel und Nazideutschland nah. Andrerseits wird in diesem Film als selbstverständlich unterstellt, dass jeder Mensch, wenn er nur Israel unterstützt oder mit Israelis kooperiert, sein Todesurteil unterschreibt. Mit dieser Doktrin, die in der Politik des Mufti von Jerusalem zwischen 1936 und 1939 ihren Ursprung hat, wird Israel in einer kaum überbietbaren Weise delegitimiert.3 Darüber hinaus wird Israel von Said, jener Hauptfigur, der das Selbstmordattentat später gelingt, als eine Macht dämonisiert, die selbst dann noch die Verantwortung trägt, wenn Palästinenser andere Palästinenser, wie etwas Saids Vater, ermorden.

Ein kritisches Begleitheft zum Film hätte nicht nur diese antisemitischen Codes dechiffrieren, sondern gleichzeitig auf den palästinensischen Antisemitismus, wie er am radikalsten in der Charta der Hamas und dem TV-Kanal der Hizbollah zutage tritt, aufmerksam machen müssen.

Demgegenüber kommt der Begriff des Antisemitismus in der gesamten Broschüre nicht vor. Selbst noch die Hiszbollah wird verharmlosend als eine „antizionistisch eingestellte Organisation“ präsentiert. Zwar vermerkt die Broschüre, dass im Film die „Forderungen der Palästinenser stark vereinfacht dargestellt (werden). ... Ob Said und Khaled den Staat Israel grundsätzlich anerkennen würden, erfährt man nicht“. Davon aber, dass eine so einflussreiche Gruppe wie die Hamas Israel gänzlich von der Landkarte verschwinden lassen will, schweigt sich die Broschüre aus. Mehr noch: Ein antisemitischer Code, wie der vom „Kollaborateur“ wird nicht nur nicht problematisiert, sondern distanzlos übernommen und nicht einmal in Anführungszeichen gesetzt.

Trägt wenigstens in diesem Punkt das für den Schuleinsatz formulierte Arbeitsblatt den Ansprüchen eines kritischen Politikunterrichts Rechung? Mitnichten! Ich zitiere Aufgabe 2 : „Bilden Sie Zweier-Teams. Schreiben Sie zu einer der Szenen je einen inneren Monolog aus der Sicht von Said. Orientieren Sie sich dabei an den folgenden Leitfragen: Was nimmt Said wahr? Wie fühlt er? Was denkt er? Welche Entscheidung trifft er? Wodurch werden diese Entscheidungen beeinflusst?“ Will Thomas Krüger ausgerechnet mit derartigen Fragen die Identifikation der Schüler mit Said verhindern?

Drittens klammert „Paradise Now“ aus, was dem Attentat unmittelbar folgt: „Frauen ohne Unterleib, Männer ohne Kopf, Kinder ohne Arme und Beine, Blut und Eingeweide in den Sitzreihen, verbrannte Fleischbrocken überall. Nichts davon: Nach einer [Kamera-]Fahrt auf Saids Augen wird die Leinwand ganz licht und weiß und rein.“4 Mehr noch: Zusammen mit den Opfern des Massakers blendet der Film zugleich ein universales Prinzip der Ethik aus: Dass die Ermordung und Verstümmelung von Menschen nach dem Zufallsprinzip aus prinzipiellen moralischen Erwägungen abzulehnen ist.

Doch anstatt wenigstens in dieser Hinsicht einen Gegenakzent zu setzen, taucht in der Handreichung der Bundeszentrale das ethische Essential nicht mal als Denkmöglichkeit auf. Die Autoren der Broschüre scheinen das suicide bombing nur dann für absurd zu halten, wenn es die Falschen trifft. So lesen wir auf Seite 6: „Als Said noch einmal ins Westjordanland zurückkehrt und dort mit dem Sprengstoff am Körper umherirrt, wird er plötzlich seinem eigenen Volk zur Gefahr – und das geplante Attentat in diesem Moment ad absurdum geführt.“ „In diesem Moment“, wohlgemerkt! Wäre demnach sein Sinn, wenn es Juden trifft, erfüllt?

In ihrer Parteinahme für Said und Khaled gehen die Autoren dieser Broschüre noch einen Schritt weiter. Sie konstruieren zwischen der Hisbollah und der Hamas auf der einen Seite und dem französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) auf der anderen Seite einen Zusammenhang. Wörtlich heißt es unter der Überschrift: „Kurze Geschichte des Selbstmordattentats“:

„Emile Durkheim (analysierte) den Selbstmord ,für eine höheres ideelles Gut’ als gesellschaftliches Phänomen und fand dafür den Begriff des ,altruistischen Selbstmords’. In Durkheims Schema passten über 50 Jahre später, während des Zweiten Weltkriegs, die gefürchteten japanischen Kamikaze-Flieger.“

Altruismus wird im Duden als eine „durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“ definiert. Dass die Bundeszentrale für politische Bildung antijüdische Massenmorde mit dem Begriff vom „Altruismus“ in eine Verbindung bringt, ist skandalös.

Spätestens seit 2001 ist der suicide bomber schon deshalb die Horrorfigur schlechthin, weil ihm eine Konstante der menschlichen Natur, der Selbsterhaltungstrieb, zu fehlen scheint. Sein Einsatz erzeugt aller Ortens ein Klima des Ausnahmezustands.

Ein kritisches Begleitheft zu „Paradise Now“ hätte die ideologische Triebfeder dieses Horrors hervorheben und richtig stellen müssen, dass Selbstmordanschläge gegen Israelis bevorzugt immer dann eskalierten, wenn eine friedliche Konfliktlösung am Horizont erschien; dass die islamistischen Propagandisten dieser Anschläge den Gedanken an „Verzweiflung“ als Tatmotiv stets weit von sich gewiesen haben und dass diese Form des Djihad in der Programmatik der Muslimbruderschaft seit den 30er Jahren stets antisemitisch konnotiert gewesen ist. Besonders aber hätte die Broschüre der zentralen Filmbotschaft entgegentreten müssen, wonach Selbstmordbomber Menschen seien, wie du und ich und die Zweckhaftigkeit des von ihnen verübten Massenmords ein Diskursthema wie jedes andere Thema auch.

Die Bundeszentrale traf eine andere Wahl. Ebenso, wie im Film, sind auch in ihrer Broschüre die wenigen kritischen Einwände, die man dort gegen Selbstmordattentate nachlesen kann, taktisch motiviert und dem antiisraelischen Duktus der Gesamtdarstellung untergeordnet. Betrachten wir als letztes Beispiel den Dialog zwischen der „Menschenrechtsaktivistin“ Suha und dem Selbstmordattentäter Khaled, den das Filmheft der Bundeszentrale im Wortlaut dokumentiert:

Suha: „Wenn du so weit gehst, für die Gleichberechtigung zu töten und selbst sterben willst, warum setzt du diese Kraft nicht eher ein, um friedliche Lösungen zu finden?

Khaled: Wie denn? Bei deiner Menschenrechtsorganisation?

Suha: Das wäre eine Möglichkeit. Immerhin haben die Israelis durch uns kein Alibi, weiter zu töten!

Khaled: Du bist so naiv. Ohne Kampf keine Freiheit. Jemand muss das eben tun, sich opfern gegen das Unrecht.

Suha: Opferbereitschaft? Das ist Rache! Du tötest und wirst genau wie sie.“

Hier werden von Suha zwei Einwände formuliert: Erstens sollte man den Israelis kein „Alibi“ geben, „uns weiter zu töten“, so als ob dies die hauptsächliche Beschäftigung „der Israelis“ sei. Zweitens würde der suicide bomber „genau wie sie“, wie die Israelis, werden. Selbstverständlich hätte dieser Dialog in den Schülerauftrag münden können, die schlechte Argumentation von Suha zu analysieren, um bessere Argumente gegen den suicide terror zu entwickeln. Doch weit gefehlt. Auch in Aufgabe 3 dieses Arbeitsblattes wird das didaktische Prinzip des kontroversen Denkens auf die Leitfrage reduziert, wie Israel am effektivsten bekämpft werden kann. Die letzte der drei Aufgabenstellungen bezieht sich auf den oben zitierten Dialog und lautet wie folgt:

„Fassen Sie Khaleds Motive für ein terroristisches Attentat in Stichworten zusammen. Entwickeln Sie mithilfe von Suhas Äußerungen ein Plädoyer, das ein Familienmitglied eines Selbstmordattentäters gegen sein solches Attentat schreibt.“

„Paradise Now“ wurde hauptsächlich in Nablus gedreht und entstand in jenem Klima der Einschüchterung, wie es in den palästinensischen Autonomiegebieten alltäglich geworden ist. So musste das Filmmanuskript den terroristischen Freischärlergruppen vorgelegt werden. Allein schon der Verdacht, dieser Film könne die Selbstmordattentate kritisieren, reichte aus, um ein führendes Mitglied der Filmcrew, Hassan Titi, zu entführen. Es bedurfte einer Intervention des Terror-Paten, Jassir Arafat, um zu erreichen, dass das entführte Crew-Mitglied wieder auf freien Fuß gesetzt wird.5 Es ist wenig verwunderlich, dass ein Film, der unter solchen Umständen gedreht wurde, auf jedwedes grundsätzliches Argument gegen die Ermordung beliebiger Israelis verzichtet.

Demgegenüber war die Bundeszentrale für politische Bildung von keiner bewaffneten Bande unter Druck gesetzt, als sie die Entscheidung traf, der Verständniswerbung für Selbstmordattentate politischen und pädagogischen Flankenschutz zu geben. Auch deshalb kann die Einstampfung des Filmheftes zu „Paradise Now“ nur der erste Schritt sein. Die für dieses Heft Verantwortlichen haben das Vertrauen in die Seriosität ihrer „Bildungsarbeit“ verspielt. Sie müssen gehen.
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1 Zit. nach Christina Nord, Körper in Sprengstoffgürteln, in: taz, 29. September 2005.

2 Zwar wird in einer Seitennotiz auf Seite 7 das 1999 von Ehud Barak vorgelegte Memorandum zur Beendigung des Nahostkonflikts erwähnt. Mit der Formulierung „Das Memorandum … brachte jedoch nicht den erhofften Fortschritt“ bleiben das Drama von Camp David und die Ursache für das Scheitern dieser Gespräche jedoch unerwähnt.

3 Diese Delegitimierung ist von dem 1961 in Nazaret geborenen Regisseur, Hany Abu-Assad, durchaus intendiert. So beantwortete er die Frage: „Wo sehen Sie Ihre Position als in Israel geborener Araber?“ wir folgt: „Ich bin nicht in Israel geboren, ich bin Palästinenser. Ich sage nicht Israel, weil das ein rassistischer Name ist. Ich betrachte es immer noch als Palästina.“ (Siehe: http://rhein-zeitung.de/a/magazin/kino/t/rzo185748.html?markup )

4 Alan Posener, Sympathieträger mit Hundeblick, in: DIE WELT, 28. September 2005.

5 Emanuel Levy, An extreme act of filmmaking, in: Jerusalem Post, September 27, 2005.